Valentin kündigte sich mit einem Telegramm an: „Ankunft: 16.7.33 in Tartu. Freue mich auf Dich und Kinder.“
Trude wusste, sie hätte sich freuen müssen. Jede andere an ihrer Stelle hätte ihren Geliebten ersehnt. Die knappen Worte wirkten auf die Gattin wie eine turmhohe Erwartung und sie sah der Begegnung mit Angst entgegen. Sein Wunsch, seine Frau und die Kinder zu sehen, forderte Trude heraus, Stellung zu beziehen. Er würde sich mit ihr unterhalten wollen, er würde mit ihr schlafen wollen, er würde mit den Buben und ihr Familie sein wollen.
In den Nächten vor Valentins Ankunft zerbrach sich Trude den Kopf und fand kaum Schlaf: „Was hat uns nur entzweit? Leningrad? Die Kinder? Die zerplatzten Träume? Was hat mir meine Unbeschwertheit geraubt? Welche Macht war stärker als unsere Liebe, die wir einst füreinander empfanden? Gibt es noch eine Chance für uns?“
Mit je einem Buben an der Hand wartete sie am Bahnsteig von Tartu auf Valentins Ankunft. Juri und Sergej waren außergewöhnlich brav. Sie bemerkten die Spannung in der Luft und ahnten, dass ihre Mutter ihnen heute keine Aufmerksamkeit schenken würde, so sehr sie sich auch anstrengten. So ließen sie es bleiben, sich wie sonst zu hänseln.
Die Buben trugen ihre Sonntagsanzüge. Die Mutter hatte ihnen das braune Haar am Vortag kurz geschnitten, die wilden Locken waren anders nicht zu bändigen. Trude hatte sich hübsch, aber nicht übertrieben herausgeputzt. Sie trug ein schlichtes weißes Sommerkleid, das mit blauen Kornblumen und grünen Ranken verziert war und das sie sich erst kürzlich hatte anfertigen lassen. Die Kleider, die sie in den ersten Monaten in Leningrad getragen hatte, passten immer noch nicht, so sehr hatte sie abgenommen. Die schönen Stoffe hingen nur schlaff an Trude herunter.
Valentin stieg aus dem Zug, suchte den Bahnsteig nach seiner Familie ab. Er ließ den Koffer stehen und eilte seinen Liebsten entgegen. Er umschloss alle drei mit seinen Armen. Den Buben wurde es rasch zu eng und sie befreiten sich aus dem Griff. Die Kinder plapperten und fragten, sie zerrten und stupsten. Es machte den Anfang einfacher. So still die Buben vor der Zugseinfahrt standen, so aufgeregt tanzten sie jetzt um ihren Vater herum, den sie zu Trudes Erleichterung in Beschlag nahmen. Der dreijährige Juri hatte sich im Vorfeld viele Gedanken gemacht, ob der Vater derselbe war, wie der in der Stadt, ob der Papa ihn noch gernhaben würde und ob er ihnen etwas mitbringen würde.
Valentin setzte sich auf deren Wunsch zu seinen Söhnen hinten auf den Pferdewagen. Sie forderten seine ganze Aufmerksamkeit. Er musste von Leningrad und der Wohnung erzählen, von den großen Schiffen und den Kindern der Straße. Der Vater lauschte den Heldentaten seines Ältesten. Die Eheleute hatten wenig Gelegenheit, sich zu unterhalten. Und es war Trude recht. Sie saß auf dem Kutschbock und hielt die Zügel des Zweispänners in den Händen. Sie hatte keine Eile, den Hof zu erreichen. Ab und an drehte sie sich kurz um, um nach den Kindern zu schauen und Valentin aus dem Augenwinkel zu beobachten. Valentin versuchte dabei immer wieder, ihren Blick zu erhaschen, um mit ihr Kontakt aufzunehmen. Doch Trude wich ihm aus und richtete sich wieder auf den Weg aus. Sie spürte den Blick ihres Mannes in ihrem Rücken.
Trude hatte es ausgeblendet, doch sie anerkannte: Valentin war ein attraktiver Mann mit seinen ebenmäßigen Zügen. Seine Haut war makellos wie eh und je. Er würde mit Leichtigkeit eine neue Frau gewinnen. Dieser Gedanke versetzte Trude einen eifersüchtigen Stich. Würde sie ihn einfach so an eine andere loslassen können?
Abgesehen von ein paar einzelnen grauen Haaren im dichten Braun hatte sich Valentin äußerlich nicht verändert. Ob und was die Wochen ohne seine Familie in seinem Inneren für Spuren hinterlassen hatten, war mit bloßem Auge nicht erkennbar. Trotz Furcht vor dem nächsten und übernächsten Schritt, dem Gespräch unter vier Augen und der unweigerlichen intimen Annäherung wurde Trude neugierig, wie es ihm ergangen war.
Es stimmte Trude milde, den Vater mit den Kindern herumalbern zu sehen, im gestandenen Mann den kleinen Jungen zu finden, der sich im Spiel vergaß. Wie sie auf dem Kutschbock ihre drei Männer in ihrem Rücken beim Schwatzen belauschte, musste sie unverhofft lächeln. Mit einem Mal wurde es ihr leichter ums Herz. Irgendwie würden sie es hinkriegen. Sie anerkannte seine Größe, wie er aufrichtig an den Räubergeschichten der Jungen Anteil nahm und ihnen ungeniert seinen Vaterstolz und seine Liebe bezeugte. Es ebnete einen gangbaren Weg zwischen ihm und ihr, wo sie vorher nur Dickicht und Abgründe gesehen hatte.
Nach dem Abendessen rückte der Moment unausweichlich näher. Olga brachte die Buben ins Bett. Valentin fasste seine Frau am Arm und führte sie ins Freie. Damit wollte er verhindern, dass sie ihm erneut auswich. Doch sie wusste ja selber, dass ein weiteres Hinauszögern keinen Sinn ergab. Nach dem heißen Sommertag strahlte die Erde immer noch Wärme ab und ein angenehmer Abendwind zog auf.
Sie zogen einfach aufs Geratewohl los. Schweigend. Valentin hatte schon immer ein sicheres Gespür für die Stimmungen seiner Mitmenschen, für den richtigen Zeitpunkt. Es war ihm nicht entgangen, dass Trude ihn den ganzen Tag auf Abstand gehalten hatte. Er signalisierte ihr mit seinem Schweigen, dass er seiner Frau den ersten Schritt überließ.
Trude hatte von anderen Frauen gehört, wie deren Ehemänner die eheliche Pflicht einforderten. Es war gang und gäbe, dass die Angetraute als Eigentum eines Gatten betrachtet wurde. Somit durfte ein Mann zu jeder Tages- und Nachtzeit über sie und ihren Körper verfügen. Ungeachtet, ob die Frau selber Lust empfand, in guter Verfassung, schwanger oder gar krank war. Trude wusste, Valentin hätte sie auf der Stelle irgendwo im Gehölz oder auf dem freien Feld vergewaltigen können, ohne dass er zu Rechenschaft gezogen worden wäre. Dazu gab ihm nicht nur die Tradition des Patriarchats, sondern auch die Kirche den Segen.
Aber er tat es nicht.
Sie schritten, jeder in sich versunken, die Gedanken ordnend, nebeneinander her. Sie berührten sich nicht einmal an den Händen. Von Weitem betrachtet bummelten zwei Menschen wort- und ziellos nebeneinander durch die Gegend.
Jeder spürte das Ringen des andern. Jeder versuchte zu ergründen, was sie voneinander trennte, wie die Lücke zu schließen war. Weder Valentin noch Trude fanden den richtigen Einstieg ins Gespräch. Jedes falsche Wort wäre ein Wort zu viel gewesen. Und darum war Schweigen die bessere Wahl. Augenscheinlich passierte nichts, rein gar nichts. Und doch genau darin geschah das Wesentliche. Im Abwarten, im Aushalten, im Nichts-erzwingen-Wollen, indem sie sich mit gut gemeinten, aber falschen Gesten und Worten verschonten, in dieser Aussparung wurde der Keim spürbar. Da war es wieder! Das vertraute Behagen. Wie wohl es Trude fühlen konnte in seiner Gegenwart, wenn der Druck wegfiel! Valentins unaufdringliche Anwesenheit ließ sie gänzlich entspannen.
Und plötzlich begriff Trude in aller Klarheit: Sie hatten für ihre Ehe viel zu wenig Sorge getragen. Sie war ein zarter, hoffnungsvoller Trieb, der in sich das Versprechen eines prächtigen Baumes trug. In den ersten Monaten hatten die Frischverliebten die Pflanze genährt und versorgt. Doch eines Tages hatten sie ihr keine Beachtung mehr geschenkt. Allem anderen hatten sie Aufmerksamkeit gegeben: den Kindern, Valentins Arbeit, der Bewältigung von Kälte und Alltag. Doch ihnen als Paar, dem Stamm der Familie, hatten sie nicht die gebührende Wichtigkeit eingeräumt. Und alles war aus dem Lot gekommen. Mit dieser Einsicht übermannte Trude der dringende Wunsch, ihren Mann ganz zurückzugewinnen, nicht nur den physisch anwesenden Mann neben sich. Sie hielt abrupt im Gehen inne und wandte sich ihm zu. Erst zögerte sie einen Augenblick, suchte sein Einverständnis in den Augen. Dann schlossen sie sich in die Arme. Der Bann war gebrochen. Eine Welle von Erleichterung, Liebe und Dankbarkeit spülte über sie hinweg. Wie zwei Gestrandete nach einem Schiffbruch hielten sie sich aneinander fest, als wollten sie sich nie mehr loslassen.
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