Es mangelte der Familie auch nicht an Geld. Sie waren ziemlich vermögend. In den Jahren hatten sie dank Valentins gutem Einkommen einiges ansparen können. Doch wenn es nichts mehr zu kaufen gibt, macht auch Geld nicht satt. Eine akademische Bildung mag Ansehen, geistige Erfüllung und ein pralles Portemonnaie einbringen. Doch in den Hörsälen wird kein Weizen gepflanzt und auf Pflastersteinen gedeihen keine Kartoffeln. Der Mensch wird immer fruchtbaren Boden brauchen, ihn mit Fleiß und Ausdauer bearbeiten müssen, wenn er satt sein will. Beherzter denn je packte Trude in diesen Monaten auf dem Feld mit an. Das Kriegsgerassel in Europa mahnte sie, den Augenblick mit aller Intensität zu leben.
Valentin lotete währenddessen in Tallin, Riga, Helsinki und anderen Hafenstädten Arbeitsmöglichkeiten aus. Er kontaktierte in Finnland und Russland Werften. Ohne Erfolg. Und je näher der Herbst kam, die Kinder wieder zurück zur Schule sollten, und Klarheit über ihre Zukunft gefordert war, desto mehr freundeten sie sich mit dem Gedanken an, ein Gut in Estland zu kaufen. Die Idee, sich mit eigenem Land und Vieh zu versorgen, schien nicht mehr abwegig, wenn auch in Anbetracht von Valentins Beruf und Geschick nicht die Lieblingsvariante. Valentin bereiste von da an Estland, um ein Zuhause für die Familie zu finden.
-----------------
Trude kehrte Ende August nach Leningrad zurück, während die Buben in Olgas Obhut blieben. Es gab einiges zu regeln. Die Wohnung, die Schule der Kinder, ihr verwaistes Büro, Marijas Zukunft. Trude wollte sie mit nach Estland nehmen, sobald sie den Wohnsitz geregelt hatten. Marija verbrachte während der Abwesenheit ihrer Arbeitgeber den Urlaub bei ihrer Familie in der Datscha am Stadtrand und schaute gelegentlich nach der Wohnung.
Trude freute sich darauf, sich eine Woche lang ohne Kinder an der Hand in Leningrad zu bewegen. Ausgehen! Ausschlafen! Sie nahm sich vor, nur dann zu essen, wenn sie hungrig war, nicht wenn die Uhr, die den Familientakt bestimmte, es vorgab. Das gab es noch nie, dass sie ganz alleine in der Stadtwohnung war. Wenn nicht Kinderlärm die Räume füllte, dann Marijas, Valentins oder der der Gäste.
Beim ersten Rundgang durch die Zimmer vergewisserte sie sich, ob alles am angestammten Platz war. Nicht aus Misstrauen zu Marija, mehr um die Gegenstände, die ihren Alltag zierten, wie alte Freunde zu begrüßen. Trude riss die Fenster auf, um die abgestandene Luft entweichen zu lassen und die spätsommerliche Sonne hereinzulassen. Sie zog ihre Schuhe aus, schleuderte sie lustvoll, weil kein Zwang zur Vorbildlichkeit da war, durch den Raum, fläzte sich auf das grüne Sofa und streckte die Beine über die Seitenlehne. Auf dem Gehsteig hörte sie hektische Schritte von Stöckelschuhen vorbeitrippeln. Von weiter weg schnappte sie barsche Gesprächsfetzen von einem Geschäftsmann auf, der seinem Laufburschen die Leviten las. Ein Automobilist trat quietschend auf die Bremse und eine Fahrradklingel ertönte. Sonst war es still. Aus der Wohnung drang kein Laut. Obschon Trude diesen Augenblick der Ruhe genoss, verkrampfte sich ihr Herz. Sie sehnte sich bereits innerhalb weniger Stunden nach ihren vier Männern! Sie wusste ganz genau, wohin sie gehörte.
Am anderen Tag suchte sie die Praxis des Bären auf. Sie wollte sich von ihm bestätigen lassen, dass die dumpfen Bauchschmerzen und die gelegentliche Übelkeit, die sie schon eine Weile plagten, nur die letzten Zuckungen einer lästigen sommerlichen Darmgrippe waren. Auch wollte sie sich mit ihm und seiner Frau verabreden. Die Sprechstundenhilfe kannte Trude wegen der häufigen Arztbesuche mit den Kindern bestens und schleuste sie, einen Notfall vortäuschend, an den wartenden Patienten vorbei ins Sprechzimmer. Die Wiedersehensfreude war groß. Die Diagnose weniger. Natürlich wusste Trude nach drei Kindern die frühen Anzeichen zu deuten. Erfolgreich hatte sie die Möglichkeit einer Schwangerschaft weggedrängt und hoffte, von Medwedew einen anderen Befund zu bekommen. Sollte er doch Menopause, Anämie und weiß der Geier was diagnostizieren. Doch der Arzt tat ihr den Gefallen nicht, sondern verkündete mit einem breiten Grinsen, dass ihr viertes Kind voraussichtlich im Januar 1939 zur Welt kommen würde. Als guter Freund durfte er sich die Bemerkung erlauben: „Ihr müsst halt, wenn ihr schon die ganze Zeit über einander herfallt, aufpassen!“
Trude konnte es ihm nicht übel nehmen. Er hatte ja recht. Sie war körperlich und seelisch in bester Verfassung, sie wurde im Oktober ja erst dreißig. Und dennoch war dies so ziemlich der schlechtmöglichste Zeitpunkt für ein weiteres Kind. Die Bestätigung des Arztes überwältigte Trude und sie brach in Tränen aus. Der Bär drückte sie als Arzt und Freund wortlos an seinen fülligen Körper und ließ sie, wissend, dass seine Patienten in der Sprechstunde warteten, leer weinen. Seiner Meinung nach war Trude ein begründeter Notfall. Die werdende Mutter schilderte ihm schließlich in wenigen Worten den Stand der Dinge und die beiden verabredeten sich zum Nachtessen.
Rita Katarina war bereits in alles eingeweiht, als Trude am Abend bei Familie Medwedew eintraf. Sie schloss die Freundin mit einer langen wortlosen Umarmung in die Arme. Darin drückte sie Wiedersehensfreude, Anteilnahme, Solidarität und auch den berechtigten Anteil Freude am neuen Menschlein aus. Bei Tisch schwatzten sie über Belangloses, über Dinge, die geschahen, gesehen wurden, einen nicht wirklich tangierten, aber einen unterhielten. Trude fühlte sich federleicht in Rita Katarinas Gesellschaft. Der Bär, der inzwischen zu ihnen gestoßen war, hörte ihrem Gezwitscher belustigt zu, bis ihm der Zeitpunkt gekommen schien, den Nichtigkeiten Einhalt zu gebieten und Wichtigerem Gehör zu verschaffen. Er räusperte sich, hielt einen kurzen Moment inne, was die Stimmung im Raum bedeutungsvoll anhob. Dann sprach er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme: „Ich habe nach deinem Besuch in der Praxis mit meinem Vetter telegrafiert. Mikhail Petrowitsch ist Ende der Zwanzigerjahre nach Darwin ausgewandert und hat sich eine kleine Werft aufgebaut. Er hat mir postwendend geantwortet, er könnte Hilfe gebrauchen. Valentin kann im Herbst bei ihm als Schiffsbauer anfangen.“
Wie ein Felssturz den Verlauf eines Flusses umlenkt, brachte das Angebot aus Australien eine neue, unerwartete Wende für die Familie. Als Trude zum Birkenhof zurückgekehrt war, von der Schwangerschaft und Petrowitschs Option berichtete, riss Valentin wie ein Sportler beim Zieleinlauf die Arme hoch. Er stieß sogar einen Jubelschrei aus. Seine spontane Reaktion war eindeutig.
Valentin legte sich ins Zeug, Ausreisepapiere und Schiffskarten zu beschaffen und den Hausrat aufzulösen. In dieser Aufbruchphase lernte Trude eine neue Seite ihres Mannes kennen. Er, der nüchterne Pragmatiker, wenn es um Existenzielles, der Romantiker, wenn es um künstlerisch-ästhetische Belange ging, verwandelte sich in einen ungestümen Abenteurer.
Während Trude der Auswanderung nach Australien der Kinderschar wegen mit gemischten Gefühlen entgegenblickte, sah Valentin darin den großen Gewinn seines Lebens. Für ihn bedeutete sie die einmalige Gelegenheit, in die neue Welt zu reisen. Diese Chance würde nie mehr kommen. Also war seiner Ansicht nach keine Zeit und Energie mit zögerlichem Abwägen zu verschwenden und es galt, nur noch die Koffer zu packen.
DARWIN
1938 – 1974
1938 Rote Erde
Das Schiff, auf dem die Familie übersiedelte, hieß Minerva. Für die Kinder war es ein spektakuläres Abenteuer. Die Reise war kurzweilig und verlief zum Glück ohne Zwischenfälle. Ende November 1938 fuhren Trude, Valentin und ihre Kinder in Darwins Hafen ein.
Valentin ging als Erster von Bord und schritt zügig über den hölzernen Landesteg. Als er den ersten Fuß auf australischen Boden gesetzt hatte, bückte er sich, griff mit beiden Händen in die rote Erde und ließ sie bedeutungsvoll durch die Finger rinnen. Dann richtete er sich auf, drückte die Schulter durch und rückte seinen Strohhut zurecht. Mit beiden Händen bürstete sich Valentin unsichtbaren Staub von den Schultern. Als würde er Europa und damit alle alten Konventionen abwischen. Als wäre er ab jetzt ein freier Mann. Dann kehrte er noch einmal um, schickte sich an, seine hochschwangere Frau, die in der schwülen Hitze schwer atmete, über den Pier zu geleiten. Ihnen folgten drei wirbelnde Buben, die sich förmlich in das neue Abenteuer stürzten.
Читать дальше