Durch das Heraustragen der Ideen in andere Gremien und in informellen Pausengesprächen entstand ein Austausch zu möglichen theoretischen Anknüpfungspunkten des Modells »Schlüsselsituationen«. Schöns (1983, 1987) »reflective practice« und Laves und Wengers (1991) »situated learning« wurden diskutiert. Durch diese gemeinsamen Gedankengänge wurde das Interesse von anderen geweckt, und die Arbeitsgruppe vergrößerte sich im Frühling 2010. Dies führte zu einer Erweiterung der Perspektiven.
Erstmals wurden Veranstaltungen in der Lehre nach dem sich entwickelnden Modell durchgeführt und wurde gleichzeitig die Literatur aufgearbeitet. Der Arbeitsgruppe gehörten nun am Rande auch zwei Professionelle der Sozialen Arbeit als externe Lehrbeauftragte und andere Dozierende an, die alle in der Lehre tätig waren.
Im Herbst 2010 begann eine intensive theoretische Beschäftigung mit den Begriffen »Lernen«, Community of Practice, »Handeln« und »Praxis-Theorie-Relationierung«. Wir gingen von uns bereits bekannten Definitionen und Theorien aus. Erklärtes Ziel dabei war, Lernen im professionellen Kontext erklären zu können. Wir wollten eine theoretisch fundierte Aufbereitung dieser Ansätze vorantreiben. Die Hauptbezugspunkte waren einerseits die »konkreten Kompetenzen« von Kaiser (2005b) und andererseits das »situierte Lernen«. Wir wollten Lernen allerdings umfassend, aus verschiedenen theoretischen Perspektiven (Illeris, 2010; Kolb, 1993; Jarvis, 2009; Schön, 1983 und 1987; Lave & Wenger, 1991; Wenger, 1998; Kaiser, 2005a und 2005b) verstehen und eine Arbeitsdefinition von Lernen für uns entwickeln. Außerdem fragten wir uns, wie diese Theorien mit dem Modell der Schlüsselsituationen in Verbindung gebracht werden konnten.
Die Erfahrungen in der Lehre, der Austausch mit den involvierten Studierenden und Lehrbeauftragten und die Auseinandersetzung mit den Theorien führten zu verschiedenen Anpassungen des Modells. In den Modulen zur Wissensintegration und in der Weiterbildung für Praxisbildende konnten wir die Erkenntnisse aus unserer Arbeitsgruppe, die sich im Laufe der Zeit zu einer CoP entwickelte, einspeisen, konnten Anpassungen vornehmen und Neuerungen ausprobieren. Die regelmäßig durchgeführten Evaluationen gaben uns wichtige Hinweise, wie das von uns im Laufe der Zeit entwickelte Lernarrangement von den Studierenden aufgenommen wurde und welche Fortschritte sie damit machten.
Trotzdem konnten wir noch kaum eine Verbindung von situated learning mit Schlüsselsituationen herleiten, auch die Verbindung zu den Communities of Practice war noch zu wenig deutlich. In einer dieser Sitzungen entstand zum ersten Mal die Idee einer »Internetplattform« und das Bild einer virtuellen CoP, in der Schlüsselsituationen abgebildet und bearbeitet werden. Diese »Leitbilder« halfen als Vorstellungskraft, die Vision der Arbeit mit und den Diskurs über Schlüsselsituationen zu entwickeln, und trieben uns in unserer Arbeit immer wieder an.
In der Vorbereitung auf die Veranstaltungen im Herbst 2011 erstellten wir einen Reader für die Studierenden und die Lehrbeauftragten. Dazu setzten wir uns gezielt mit der sozialen Theorie des Lernens nach Wenger (1998) auseinander. Textvorlagen wurden produziert, diskutiert, verworfen und wieder neu gestaltet. Die abstrakte Ebene des Originals stellte immer wieder eine intellektuelle Herausforderung dar. Im Bemühen, das Modell zu verstehen, stellten wir fest, dass die soziokulturelle Herkunft des Konzeptes wahrscheinlich maßgebend für dessen Verständnis ist. Während die in der deutschen Tradition entstandenen konstruktivistischen Theorien stark individualistisch ausgerichtet sind, hatte die soziale Theorie des Lernens von Anfang an den Fokus auf soziale Gemeinschaften in Anlehnung an Giddens (1997, Konstitution der Gesellschaft ) und Suchman (1987, Plans and situated actions, eine ethnografische Studie zur Firma Xerox). Daraus ist im englischen Sprachraum das Konzept des situierten Lernens entstanden. Diese beiden Traditionen von situiertem Lernen trafen nun in unserer CoP aufeinander.
Herausfordernd gestaltete sich auch die sprachliche Bearbeitung. An der Hochschule für Soziale Arbeit (HSA) der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) werden zum Beispiel zentrale Begriffe wie Verstehen und Deuten verwendet, die ihre Wurzeln in der deutschen Hermeneutik haben. Auf den ersten Blick schienen sie als Übersetzung von »negotiation of meaning« (deuten) und »experience of meaning« (verstehen) (Wenger, 1998) durchaus tauglich. bei genauerem Hinsehen stellten wir aber fest, dass »verstehen« und »deuten« dem Charakter der Erfahrung von Menschen als sozialen Wesen – ein Aspekt, den Lave und Wenger (1991) immer wieder betonen – nicht nahe genug kommen. Daher schien die Wendung »Aushandeln von Bedeutung« passender. Darin kommt der soziale Aspekt besser zum Ausdruck.
Wir entdeckten auch Klärungsbedarf betreffend die Situiertheit von Wissen. Wie Lave und Wenger (1991) erklären, ist situiertes Wissen nicht von einer Situation in eine andere übertragbar. Wir fragten uns, wie radikal sie das meinten. Diese zentrale Frage zur Konzeption von Schlüsselsituationen mussten wir beantworten können. Ließen sich Analogieschlüsse – wie wir sie im Kurs »Schlüsselsituationen« anstreben – überhaupt mit der sozialen Theorie des Lernens erklären? Inwiefern kann also Wissen, wie Dreyfus und Dreyfus (1987) dies in der Expertinnen- und Expertenforschung beschreiben, via Geschichten oder Analogien zu bestimmten Situationen in andere Situationen übertragen werden? Diese Fragen wollten wir in einem nächsten Schritt klären.
Weitere Fragen betrafen die Konsequenzen der Theorie für die Lernarrangements der Studierenden: Inwiefern können wir im Kurs »Schlüsselsituationen« von CoPs sprechen? Falls die Kleingruppen als solche verstanden werden können, stellt sich die Frage, inwiefern wir diese gestalten und fördern können. Unsere Antworten auf diese Fragen werden im Buch besprochen.
Die Fortschritte bei der Umsetzung der Lernplattform regte unsere Vorstellungskraft weiter an. Wir stellen uns vor, dass Ausbildende und ehemalige Studierende, die mit dem Modell der Schlüsselsituationen vertraut sind, diese in Praxis und Ausbildung weiterhin nutzen. So könnte sich die Plattform auch in Zukunft als Ressource und das Reflexionsmodell als wirkungsvolles Arbeitsinstrument erweisen.
In den teilweise ganztägigen Sitzungen kamen wir der Sache langsam auf die Spur, fanden Antworten auf die oben formulierten Fragen und hielten unsere Erkenntnisse in unserem Reader fest. Im Herbst 2011 passten wir das Programm für die Veranstaltung aufgrund dieser Erkenntnisse und neuer Vorgaben an und trafen Absprachen mit den involvierten Dozierenden und externen Lehrbeauftragten.
Gegen Ende 2011 waren wir dann so weit, dass wir mit unserem Modell an eine breitere Öffentlichkeit treten konnten, und konkretisierten das Vorgehen hinsichtlich von Publikationen und Teilnahme an einer internationalen Tagung.
In der Bearbeitung von Reader und Publikation setzten wir die Diskussionen fort und schärften unser Verständnis. Wir begannen, zwei Ausrichtungen des Modells »Schlüsselsituationen« zu differenzieren: zum einen die Arbeit mit Schlüsselsituationen als Modell zur Reflexion, zum zweiten den Diskurs über Schlüsselsituationen als Systematik für das Wissensmanagement und für einen Fachdiskurs zu professioneller Praxis in der Sozialen Arbeit. Schließlich veröffentlichten wir unser Modell erstmals im European Journal of Social Education (Staempfli, Kunz & Tov, 2012) und stellten es in zwei Workshops auf einer europäischen Tagung in Marseille vor.
Im Frühling 2012 begannen sich einschneidende Veränderungen abzuzeichnen. Zwei der drei Kernmitglieder der CoP »Schlüsselsituationen« kündigten an, im Verlaufe des Jahres die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Richtung Israel und England zu verlassen. Trotzdem arbeiteten wir ab Herbst 2012 an diesem Buch weiter und vermochten das Projekt über die geografischen Grenzen hinweg weiterzuführen. Wie sich die weitere Zusammenarbeit entwickeln wird, ist allerdings noch offen, wobei zwei geplante Dissertationsvorhaben sich explizit dem Modell »Schlüsselsituationen« widmen.
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