Eine dritte Erklärung für die institutionelle Stabilität der Geschlechtsspezifität bezieht sich wiederum auf funktionale Mechanismen. Mit der allgemeinbildenden, schulischen Konzeption des Bildungsweges, der erhöhte Leistungsanforderungen stellt, verfolgen die Verantwortlichen das Ziel, die Schülerinnen und Schüler zweckmäßig und sinnvoll auf die Anforderungen eines Studiums im Tertiärbereich sowie für die spätere Tätigkeit in den sozial und kognitiv anspruchsvollen Berufsfeldern vorzubereiten. Mit dieser konzeptionellen Ausrichtung werden jedoch eher weibliche als männliche Jugendliche angesprochen.
5 Institutioneller Wandel der Geschlechtertypik
Entlang von drei weiteren Situationen werden im Folgenden zum einen soziale Mechanismen dargestellt, welche das Potenzial hatten beziehungsweise hätten, die Geschlechtstypik der FMS aufzuweichen und zu einer offeneren Berufswahl zu führen. Zum anderen wird gezeigt, welche sozialen Mechanismen diesen institutionellen Wandel verhinderten.
Betrachten wir für die erste Situation in einem ersten Schritt nochmals den Vorschlag der Kommission der EDK (1977) ( Abbildung 2). Gemäß Planung waren damals auch «bes[ondere] administrative und techn[ische] Berufe im Dienstleistungsbereich» angesprochen, auf welche die Schule vorbereiten sollte. Zur Grundversorgung der Gesellschaft zählte demnach auch Kommunikation und Mobilität. Auf diese Berufsbereiche bereiteten in den 1970er-Jahren die sogenannten Verkehrsschulen – in der Darstellung unter die Diplommittelschulen subsumiert – in einem zweijährigen Lehrgang für Berufsausbildungen in Staatsbetrieben vor. Diese führten zu Beamtenstellen bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), bei der ehemaligen Post-, Telegraphen- und Telefonverwaltung (PTT), bei der Zollverwaltung sowie bei der Flugverkehrsüberwachung (EDK, 1983, S. 150; Criblez, 2012). Diese Verkehrsschulen sollten gemäß damaliger Konzeptidee in die DMS integriert werden, was jedoch nie umgesetzt worden ist. Leider existiert dazu bisher keine Forschung. Was wir aber rekonstruieren können, ist, dass diese Schulen im Zuge der Liberalisierungsprozesse in den staatlichen Grundversorgungen mit Kommunikation und Mobilität um die Jahrtausendwende geschlossen und deren inhaltliche Ausrichtungen in neue berufliche Grundbildungen im kaufmännischen Bereich umgewandelt wurden (z. B. berufliche Grundbildung Kaufleute öffentlicher Verkehr).
Für die FMS und die Frage der Geschlechtertypik ist aber von Bedeutung, dass es schon früh Bestrebungen gab, andere Berufsfelder, welche den modernen Wohlfahrts- und Sozialstaat fundieren und damals vor allem von jungen Männern ergriffen wurden, in die Schule zu integrieren,[7] was zu einem Wandel der Geschlechtsspezifität geführt hätte. Zu vermuten ist, dass es sich hierbei um einen Versuch handelte, die Position der bisherigen Töchterschulen durch die Ergänzung und Erweiterung mit den vom Bund betriebenen Verkehrsschulen zu stärken, was machtbasierten Mechanismen entspricht. Eine geringere Geschlechtersegregation der Schülerpopulation wäre wohl ein nicht direkt intendiertes Ergebnis gewesen. Die Umwandlung der Verkehrsschulen in berufliche Grundbildungen lässt aber darauf schließen, dass ebenfalls machtbasierte Strategien vonseiten der Berufsbildung diese Integration der Verkehrsschulen in die FMS erfolgreich verhinderten, wodurch die Schule weiterhin eine «Mädchenschule» blieb.
Die zweite analysierte Situation, welche die Geschlechtstypik der FMS hätte verändern können, betrifft Ideen ab den 1990er-Jahren, ein Berufsfeld Technik in die Ausbildung zu integrieren. Die KDMS brachte sich 1993 mit einem eigenen Positionspapier in eine Vernehmlassung[8] zur Zukunft der DMS ein und stellte dar, weshalb die DMS auch auf ein Fachhochschulstudium im technischen Bereich vorbereiten sollte.
«Einerseits wird dadurch die DMS auch für Knaben attraktiver, da es sich dabei im gegenwärtigen Verständnis noch eher um ‹Männerberufe› handelt. Anderseits kann dadurch der Anteil an Frauen in diesen Berufen erhöht und damit eine gesellschaftlich wichtige Entwicklung unterstützt werden. Insbesondere die Vertreter der technischen Berufe – aber nicht nur sie – beklagen die geringe Präsenz von Frauen in diesem Bereich.» (KDMS, 1993, S. 9)
Die Begründungen verweisen auf machtbasierte wie funktionale Mechanismen. Zum einen würde die Schule mit einer höheren Attraktivität für männliche Jugendliche an Bedeutung und damit an Definitionsmacht gewinnen. Zum anderen könnte sie den gesellschaftlichen Bedarf an technisch interessierten und ausgebildeten Fachkräften durch die Gewinnung von weiblichen Jugendlichen besser abdecken. In der Vernehmlassung selbst haben sich verschiedene Akteure jedoch dezidiert gegen die Integration eines technischen Berufsfeldes geäußert, um die berufliche Grundbildung nicht zu konkurrenzieren: «Direkte Konkurrenz der Diplommittelschule im Bereich der technischen, kaufmännischen oder landwirtschaftlichen Berufsmaturität zu den Berufslehren ist unerwünscht» (EDK, 1994, S. 15). Ein Vernehmlassungsteilnehmer ist zwar nicht dagegen, die DMS für die männlichen Jugendlichen attraktiver zu machen. Abgelehnt wird jedoch, «vermehrt Jugendliche der gewerblichen, industriellen und kaufmännischen Berufsbildung zu entziehen» (EDK, 1994, S. 17). Die von den männlichen Jugendlichen üblicherweise gewählten beruflichen Grundbildungen sowie die im Jahre 1994 neu eingeführte Berufsmaturität in diesen Berufsfeldern sollten – so diese Stellungnahmen – keinesfalls in eine Wettbewerbssituation gegenüber der DMS geraten. Der hier zugrunde liegende Mechanismus, der die Aufnahme eines Berufsfeldes Technik verhinderte, ist wiederum ein machtbasierter. Die Berufsbildungsseite wollte ihre Vorrangstellung in der Vorbereitung für technische Berufe absichern.
Vor wenigen Jahren gab es erneut Versuche, ein Berufsfeld Technik einzuführen. Eine Rektorin und ein Rektor einer FMS waren bestrebt, einen entsprechenden Pilotversuch an ihrer Schule einzuführen (Hager & Müller, 2014). Sie brachten entsprechendes Wissen aus Deutschland mit, wo ein solcher schulischer Ausbildungsgang auch für technische Berufe existiert. Ihr Vorhaben begründeten sie zum einen mit dem MINT-(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Fachkräftemangel und argumentierten, dass das schulische Angebot einer MINT-Ausbildung für jene männlichen Jugendlichen und deren Eltern attraktiv sei, die keine Berufslehre anvisieren. Dazu gehören vor allem aus dem Ausland zugezogene Familien, in deren nationalen Bildungssystemen die Berufsbildung abgewertet ist (Cattaneo & Wolter, 2013). Im Weiteren, so ihre Idee, könnten die weiblichen Jugendlichen für das Berufsfeld Technik motiviert werden. Diese Argumente und die ihnen zugrunde liegenden sozialen Mechanismen decken sich großmehrheitlich mit jenen der KDMS 20 Jahre zuvor.
Diese Bemühungen verliefen jedoch trotz hohen persönlichen Engagements der beiden Initianten schlussendlich im Sand. Die Widerstände vonseiten mächtiger Akteure in der Berufsbildung, insbesondere dem Verband der schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie, waren zu groß. Diese wollten in diesem männertypischen Berufsfeld den Weg über die berufliche Grundbildung mit Berufsmaturität schützen und widersetzten sich den Plänen.
«[…] sie wollen einfach keinen dritten Weg. [Es wird argumentiert:] ‹Es gibt schon zwei Wege, den gymnasialen Weg, der führt über das Praktikum, damit können sie dann ja auch an die Fachhochschule gehen. Und der andere Weg, der ist über die Berufslehre, der ist natürlich der goldene, weil sie dann halt auch die handwerklichen Fertigkeiten noch lernen schon in der Berufslehre. Sie wissen von der Pike auf sozusagen, was es braucht und was gemacht werden muss.›» (Rektorin FMS)
Bei der kürzlich erfolgten Revision des Anerkennungsreglements der FMS, bei dem in der sogenannten Anhörung explizit die Frage gestellt wurde, ob die vorgeschlagenen Berufsfelder die richtigen seien (Technik wurde jedoch nicht aufgeführt), haben sich einige Akteure zu einem Berufsfeld Technik geäußert. Zum einen wurde vom Verein Schweizer Gymnasial- und Fachmittelschullehrpersonen mit der Begründung des Fachkräftemangels und der Möglichkeit, Frauen für die MINT-Berufe zu gewinnen, gefordert, die Einführung eines entsprechenden Berufsfeldes zu prüfen. Zum anderen wurde von einem Kantonsvertreter explizit die Einführung eines Berufsfeldes Technik abgelehnt, da sie «zu Unklarheiten oder Doppelspurigkeiten mit den andern Ausbildungen auf der Sekundarstufe II führen könnte» (EDK, 2018, S. 72). Die EDK hat im verabschiedeten Anerkennungsreglement nun kein neues Berufsfeld Technik eingeführt. Grundsätzlich ist es aber den Kantonen freigestellt, ein solches Berufsfeld zu führen, sofern die entsprechenden kantonalen Hochschulen diese Abschlüsse anerkennen.
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