Ueli Kraft / Claudia Stauffer
Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis
ISBN Print: 978-3-0355-1973-0
ISBN E-Book: 978-3-0355-1974-7
1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 hep Verlag AG, Bern
hep-verlag.ch
«Nur eine Ansicht ist unwahr, die, dass nur eine Ansicht wahr sei.»
Ernst von Feuchtersleben (1806–1849)
Die Lerntherapie ist mittlerweile gut eingeführt: Im deutschsprachigen Raum gibt es nicht nur verschiedene Ausbildungsgänge, sei es in privaten Instituten oder an Hochschulen. Der speziellen Disziplin ist es über die Jahre zunehmend auch gelungen, im Bereich von Lernunterstützungen Fuss zu fassen, die über schlichte Nachhilfe hinausgehen. Viele Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten haben eigene Praxen oder arbeiten angestellt an Schulen und spezialisierten Beratungsstellen, um Menschen jeden Alters, im Sinn einer Hilfe zur Selbsthilfe dabei zu unterstützen, ihre Lernschwierigkeiten zu überwinden und ihren individuellen Lernweg zu finden.
Wir können die Entwicklung des Fachs als Erfolgsgeschichte verstehen, welche auch die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung von gelingendem Lernen spiegelt: Grosse Teile der Wirtschaft sehen sich unter dem globalen und zunehmend alles beherrschenden Wettbewerb auf einen hochqualifizierten Nachwuchs angewiesen, den das Bildungssystem «vorproduzieren» soll. Dass die Anforderungen in Schule und Beruf in der Folge laufend gesteigert werden, hat nicht nur bewirkt, dass das Konkurrenzprinzip auch im Bildungswesen überhandgenommen hat: Wo sich Ausbildungs- und damit Lebensperspektiven schon früh in der Schulzeit mit bestandenen Schul-, Übertritts- und Eintrittsprüfungen verknüpfen, sorgen sich auch viele Eltern bereits ab der ersten Klasse um die Zukunft ihres Nachwuchses – mit allen innerfamiliären Begleitkonflikten. Wo Lernende an die Grenze dessen stossen, was sie noch verkraften können, wird Lernen emotional negativ besetzt, die Schule gerät zum subjektiven «Unort». Der freie Markt reagiert auch darauf rasch: Das Geschäft mit ausserschulischer Nach- und Aufgabenhilfe boomt. Dem Prinzip der Inklusion folgend setzen die öffentlichen Schulen auf den von schulischen Heilpädagogen angebotenen integrativen Förderunterricht, auf Unterrichtsunterstützung in Form von Klassenassistenzen und auf den Einbezug der Schulsozialarbeit; seit einigen Jahren beobachten wir eine wachsende Zahl von Schulen, die Lerntherapeutinnen in ihre Förderteams aufnehmen.
Trotz konzeptionellen Verwandtschaften der heilpädagogischen und der lerntherapeutischen Disziplin lassen sich die unübersehbaren Unterschiede auf einer Achse abbilden: Der heilpädagogische Pol sucht den Zugang primär über die Natur der vorhandenen Lernschwierigkeit oder -störung, der psychologisch-therapeutische Pol über die Persönlichkeit und Befindlichkeit der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Wenn sich die beiden aufeinander zubewegen, kommt das Adjektiv «integrativ» ins Spiel. Die Lerntherapie ist eine facettenreiche Disziplin, was wir auch als Stärke auslegen wollen.
Das vorliegende Buch beleuchtet einige dieser Facetten der in der Schweiz entwickelten Lerntherapie. Sie fokussiert einen psychologisch-therapeutischen Zugang, ohne die heilpädagogische Seite auszuschliessen. Dieses interdisziplinäre Denken steckte schon in der Person von Armin Metzger, der nach seinem Primarlehrerpatent Psychologie studiert und schulpsychologische, erziehungsberaterische und heilpädagogische Zusatzausbildungen abgeschlossen hat, bevor er sich als freischaffender Psychologe und Psychoanalytiker in Schaffhausen etablierte. Mit dem Institut für Lerntherapie realisierte er seine Vision einer Ausbildungsstätte für angehende Lerntherapeutinnen und -therapeuten. Zur Unterstützung seines Projekts gelang es dem gut vernetzten Wegbereiter, namhafte Fachleute aus den Bereichen der Psychologie, der Pädagogik und Heilpädagogik sowie der Psychotherapie als Dozierende zu gewinnen, denen er bewusst eine grosse Freiheit in ihren thematischen und theoretischen Zugängen gelassen hat, eine wichtige Voraussetzung für die inhaltlich-konzeptuelle Breite des Lerntherapiestudiums. Daran hat sich bis heute nichts geändert, auch nicht, als Metzger 2010 das Institut in andere Hände gegeben hat: Nach wie vor ist das Institut interdisziplinär ausgerichtet, denn nur so kann an den vielfältigen Ursachen und Auswirkungen von Lernschwierigkeiten und -störungen zusammen mit den Betroffenen adäquat gearbeitet werden. Die Fruchtbarkeit dieser Überzeugung spiegelt sich in der Tatsache, dass das Institut weiterhin im Wachstum begriffen ist.
Der Mensch entwickelt sich lernend. Dies führt zu Veränderungen in den neuronalen Netzen seines Gehirns, ja in seiner Persönlichkeit; ausgetretene Pfade können also verlassen werden. In der Lerntherapie geht es um den in Interaktion mit der Umwelt lernenden, also sich verändernden Menschen. Als Therapieform auf die Person ausgerichtet, kann und darf die Lerntherapie nicht auf eingefahrenen Gleisen bleiben, sondern muss ihrem weit und ganzheitlich ausgerichteten Ansatz folgend Veränderungen und damit Weiterentwicklung zulassen. Aus diesem Grund sieht sich auch das Institut für Lerntherapie (ILT) als lernende Organisation, die Bewährtes würdigt und Neues willkommen heisst. In Bezug auf das vom ILT angebotene Lerntherapiestudium bedeutet das, stets informiert zu sein über den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs in den verschiedenen Fachrichtungen, über die aktuelle bildungswissenschaftliche Forschung und über die Hintergründe bildungspolitscher Tendenzen. Diese Haltung hat sich auch auf das Verfassen dieses Buchs ausgewirkt: Die Auseinandersetzung mit dem Thema «Lerntherapie» soll nicht nur einen Überblick über den Status quo bieten, sondern auch die Entwicklung einer Lerntherapie der Zukunft als Angebot, das allen zur Verfügung stehen soll, anstossen.
Die Beiträge des ersten Teils dieses Buches beleuchten die Kerngedanken, also dasjenige theoretische Fundament, auf dem das interdisziplinäre Denken der Lerntherapie aufliegt. Umrahmt wird dieser Teil durch zwei Texte, welche einerseits die «Frühgeschichte» der Lerntherapie und andererseits deren Entwicklung bis hin zur Profession darstellen.
In der Vorbereitung der Publikation haben wir für den Titel vorübergehend mit dem Begriff des Kaleidoskops gespielt, welches immer wieder überraschend neue Perspektiven eröffnet. Die Vielfalt dieser Perspektiven möchten wir in Teil II des Buches aufzeigen, in dem unsere Fachdozierenden einerseits aus den Blickwinkeln ihrer unterschiedlichen Theoriezugänge, andererseits aus der Sicht verschiedener Lernbeeinträchtigungen berichten.
Im dritten Teil dieses Lesebuchs möchten wir primär ehemalige Studierende unseres Instituts zu Wort kommen lassen, welche sich – manchmal in der Art lustvoller Abenteurer – in kaum kartiertes Neuland wagten und innovative Anwendungen und Perspektiven der Lerntherapie eröffnen.
Lernen ist eine manchmal sehr, manchmal weniger anstrengende Arbeit. Lernen ist zugleich aber Freude über und Stolz auf das, was wir geschafft haben. Gelernt wird auch mit- und voneinander. Der Mensch ist ein soziales Wesen, angewiesen auf Mitmenschen – ein unendlich grosses Lernfeld. Selbstverständlich können auch Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten voneinander lernen. So wünschen wir uns, dass unser Buch auch einen regen Diskurs zwischen den verschiedenen lerntherapeutischen Schulen auslösen wird, dass neue Ideen entstehen und in die Weiterentwicklung der Lerntherapie einfliessen werden. Wir sehen seine Funktion aber auch als anregendes Lesebuch für all jene, welche in lerntherapeutischen Ausbildungen stehen, lerntherapeutisch in eigenen Praxen oder im Rahmen verschiedenster Institutionen arbeiten – oder aus den verwandten Umfeldern des Bildungswesens (wie Schule, Heil- und Sonderpädagogik) einen Blick über den Tellerrand riskieren. Und letztlich denken wir natürlich an unsere Klientinnen und Klienten, die auf lebendige, wache und auch lustvoll und engagiert arbeitende Fachleute angewiesen sind, welche sie darin unterstützen, sich aus den tiefen Brunnenschächten herauszuarbeiten, in die sie gefallen sind.
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