Suzanne Hegg (1977, S. 74ff.) setzt an den Beginn des theoretisch-methodischen Teils ihres Berichts über ihren Vater ein Zitat von Pestalozzi, welcher 1801 in einem Brief an Christoph Wieland schreibt: «Mein erster Grundsatz ist: Wir können das Kind nur insoweit gut führen, als wir wissen, was es fühlt, wozu es Kraft hat, was es weiss und was es will.» Hegg hat seine Arbeit als «pädagogische Erziehungsberatung» verstanden und darin womöglich mit der Schule, den Ärzten und Psychiaterinnen kooperiert. Die «Schulpsychologie» sah er als nichts anderes als Beratung im Bereich der Schule, als ein – allerdings sehr wichtiges – «Spezialgebiet der Erziehungsberatung», in der Einfluss auf die elterliche Erziehung genommen wird (a.a.O., S. 95). Tests nutzte er lediglich als sekundäre Hilfsmittel im Rahmen des Ganzen einer Untersuchung, da Leistungsversager diese als Prüfung empfänden und mit prüfungstypischen Reaktionen die Ergebnisse verfälschten. Methodisch standen das Gespräch und die Beobachtung im Zentrum. Er nahm das Kind als Person so ernst wie die Erwachsenen. So schuf er nicht nur eine gute Beziehung, sondern auch die Grundlage, dieses «bewusster und wissender» um seine Schwierigkeiten zu machen – und damit unter Umständen schon ein Motiv zur Verhaltensänderung zu schaffen. In einer Verquickung von Abklärung und Behandlung sah er das Kind (im Allgemeinen mit der Mutter) in regelmässigen Abständen in der Sprechstunde (zuerst einmal pro Woche, später alle 14 Tage, dann 4 Wochen), um über das aktuelle Geschehen zu berichten. Wieweit die Mütter bei diesen Gesprächen immer dabei waren, geht aus dem Text nicht hervor (a.a.O., S. 95).
Suzanne Hegg bemerkt, dass sich diese pädagogische Erziehungsberatung im Vorgehen ihres Vaters «von einer lege artis durchgeführten Therapie unterscheidet, obwohl sie sich auch psychologisch-therapeutischer Methoden bedient» (a.a.O., S. 91). Bezogen auf die dahinter liegenden psychologischen Grundlagen fasst sie sich kurz:
Er war keiner Doktrin ergeben, sondern war ein ausgesprochener Eklektiker. Studiert hat er in der Ära der Psychoanalyse und der Auseinandersetzung mit ihr. Verhaltensmodifikation nach der Lehre der Verhaltenstherapie könnte bei ihm nachgewiesen werden, bevor die Lehrbücher über Verhaltenstherapie entstanden. […] Ebenso kann man bei Hegg gesprächstherapeutische Ansätze finden, seit den Anfängen seines Wirkens. […] Jahrelange Erfahrung und seine Grundüberzeugung hatten Hegg gelehrt, dass die Methode in der Erziehungsberatung nicht Selbstzweck sein darf, sondern dass sich die Art des Vorgehens nach der jeweiligen Situation zu richten hat. (A.a.O., S. 98)
Hegg hat selbst kaum publiziert. Was er gelesen hat, wissen wir nicht. Sosehr er sich als Pionier seine Erziehungsberatung selber erfinden musste: Es ist kaum vorstellbar, dass er die einschlägigen Publikationen der Ära der Psychoanalyse, etwa von August Aichhorn, Fritz Redl oder von Hans Zulliger (siehe weiter unten) und insbesondere die Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik (ZfpP) in den 20er- und 30er-Jahren nicht gekannt haben soll. Letztere hat immer wieder Aufsätze auch zur Behandlung von Lernstörungen und zur Erziehungsberatung aufgenommen. Sie soll in den folgenden Abschnitten im Zentrum stehen.
Vorher allerdings wollen wir danach fragen, was der Pionier Hans Hegg aus Bern für unsere Frage nach Vorläufern lerntherapeutischen Arbeitens bedeutet: Hegg war kein Lerntherapeut, der Begriff war eine spätere Wortschöpfung. In seiner praktischen Arbeit könnte man ihn aber durchaus als einen der frühen Vorläufer dieser Disziplin anerkennen: Ausgehend vom Kind oder vom Jugendlichen, stellt er aus einer bewusst therapeutischen Haltung eine Beziehung her, welche die Basis gemeinsamer Arbeit – Stichworte: Gespräch und Beobachtung – bildet. Aufhänger der Zuweisungen waren häufig genug schulische Schwierigkeiten, welche aber nicht als isoliertes Symptom angegangen wurden. Das Hauptaugenmerk lag einerseits auf den Schwierigkeiten, welche seine Klienten hatten, da hat er durchaus auch therapeutisch gearbeitet. Anderseits sah er sich als pädagogischen Fachmann, welcher auf die Erziehung Einfluss nehmen wollte und damit auch auf das Verhalten der Eltern und – wo möglich – von Lehrpersonen.
1.3.2 Die Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik (ZfpP)
Die Zeitschrift wurde 1926 in Wien von Heinrich Meng (Stuttgart) und Ernst Schneider (Riga) begründet, das Herausgeberteam erweiterte sich nach einigen Wechseln (Adolf Storfer war kurz dabei) nach 1932 um August Aichhorn, Paul Federn, Anna Freud (alle Wien) und Hans Zulliger (Ittigen bei Bern). 1937 – nach 395 Originalarbeiten und 4824 Seiten Text – wird das Erscheinen mitten im 11. Jahrgang kommentarlos eingestellt, das bereits angekündigte folgende Doppelheft erscheint nicht mehr. Zu erinnern sei an die Bücherverbrennungen 1933 in Deutschland. Daran, dass der Anschluss Österreichs 1936 bereits zu erwarten war und am 13. März 1938 Tatsache wurde. Daran, dass zwei Tage nach dem Einmarsch Deutscher Truppen die Räumlichkeiten des Internationalen Psychoanalytischen Verlags in Wien durchsucht wurden und dieser in der Folge liquidiert werden musste. Daran, dass jüdische Psychoanalytikerinnen und -analytiker (darunter auch Schreibende der ZfpP) Wien bereits verlassen hatten, abgetaucht waren, fliehen konnten oder (wie einige) in Konzentrationslagern verschwanden.
Halten wir hier kurz inne. Wir haben oben gesehen, dass unter der Flagge der Erziehungsberatung durchaus frühe Beispiele lerntherapeutischen Arbeitens zu finden sind. Unser Interesse gilt entsprechend den frühen Wurzeln der Lerntherapie beziehungsweise der Frage, welchen fachlich-theoretischen Hintergrund die Pioniere in der Schweiz verfügbar hatten. Hier soll deshalb weder auf die Geschichte der Erziehungsberatung vertiefter eingegangen werden noch auf jene der psychoanalytischen Pädagogik.
Im Vorwort des ersten Hefts (1926) formulieren die Herausgeber Meng und Schneider ihre Absicht, Ergebnisse der Anwendung des psychoanalytischen Verfahrens an Kindern und Jugendlichen zu veröffentlichen. Explizit eingeschlossen werden auch Erfahrungen «psychoanalytisch eingestellter Erzieher», welche «in Schule und Haus, in der Anstalts-, Heil- und Fürsorgeerziehung, in der Lehrerbildung, in der Erziehungs- und Berufsberatung» und in der «Psychodiagnostik» wirken. Dies steht für eine Öffnung auch für ein Laienpublikum, entsprechend betonen die Autoren ihr Bemühen, «in erster Linie solche Aufsätze zu veröffentlichen, die auch von den wenig Eingeweihten verstanden werden können» (1926, S. 1).
Die Durchsicht der Arbeiten gleicht einer Zeitreise in die Aufbruchstimmung der Anfänge angewandter Psychologie: Grundlagentexte, thematische Sondernummern, Erfahrungsberichte von psychotherapeutisch und pädagogisch Tätigen, Fallgeschichten, Buchbesprechungen. Und trotz dem Duktus der Zeit: Vieles ist aus dem erleichterten Bewusstsein formuliert, endlich praktische Werkzeuge zur Hand zu haben, die Probleme so vieler Kinder und Jugendlicher angehen zu können – aber auch mit der Illusion, die finster autoritären Zeiten von Zucht und Ordnung hinter sich zu lassen. So faszinierend die Durchsicht der Hefte ist – die Frage nach der Frühgeschichte der Lerntherapie setzt einen darauf fokussierten Suchfilter und es werden hier lediglich einige wenige Arbeiten stellvertretend skizziert, welche in einem expliziten Zusammenhang mit Lernschwierigkeiten stehen:
Arbeiten zu Lese- und Schreibstörungen
Alfhild Tamm – die erste Psychiaterin in Schweden – schreibt in einem längeren Beitrag über angeborene Wortblindheit und verwandte Störungen. Dieser befasst sich offensichtlich mit dem, was wir heute Legasthenie nennen und gibt reiche Hinweise zur Behandlung (1926). Die Autorin beschreibt aber auch Kürzestanalysen von Schülerinnen und Schülern mit Lese- und Schreibstörungen: Die Fallgeschichten belegen, dass solche nach analytischen Deutungen biografisch-symbolischer Hintergründe auch sofort und nachhaltig verschwinden können (1929).
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