Hans Zulliger, der Volksschullehrer und Kindertherapeut, berichtet in einer kurzen Fallgeschichte, wie er mit einem analytischen Pausengespräch mit einer Schülerin eine (Vor-)Lesestörung zum Verschwinden brachte. Das Mädchen scheitert – zum Unmut der Klasse – aus Angst vor einer bevorstehenden Geburt ihrer Mutter überall dort, wo in der Geschichte aus dem Lesebuch die Begriffe «Tod» und «Krankheit» vorkommen. Nach der Pause ist der Zusammenhang aufgedeckt, das Mädchen beruhigt und es liest die Passage ohne Probleme (1930, S. 432–433).
Die Kinderanalytikerin Steff Bornstein stellt einen Erstklässler vor, den sie «in möglichst kurzer Zeit schulfähig» machen sollte. Die Arbeitsstunden konzentrieren sich aufs Lesen und Schreiben, nach und nach werden sie ergänzt durch analytische Gespräche. Aufgefordert, zu einem D irgendetwas hinzuzufügen, malt er ein zweites, seitenverkehrtes D, die senkrechten Striche beieinander. Die Analytikerin deutet ihm diese als Popo-Backen, was der noch in der analen Phase verharrende Kleine begeistert aufnimmt: «ja, b-p, d-t, k-g das sind alles Popo-Buchstaben» – um sie von dieser Stunde an nicht mehr zu verwechseln. Die Autorin betont, dass diese Schwierigkeiten allein weder mit den Arbeitsstunden noch mit der analytischen Arbeit hätten behoben werden können (1934, S. 143ff.).
Arbeiten zu Lernhemmungen, Schulversagern sowie «schwierigen und faulen» Schülern
Edith Buxbaum berichtet einige Fallgeschichten (1930, S. 461ff.), welche beeinträchtigte Lernbereitschaften als Reaktionen auf das Verhalten der Eltern verstehen lassen: «Wenn du nicht die Matura machst, bekommst du keinen Mann», «Ich lerne nicht, damit mich mein Vater aus der Schule nimmt», oder «Die Mama meint nämlich, ich lerne nur, wenn sie schimpft». Nach einer gemeinsamen Aufarbeitung der Zusammenhänge und Interventionen bei den Eltern normalisiert sich das Lernverhalten.
Der Psychiater Gustav Bychovski ist überzeugt, dass Störungen des Lernens einen «ungemein häufigen Anlaß zur spezialärztlichen Beratung» bilden. Herausgegriffen sei die Geschichte eines 17-jährigen Mädchens, das an einer «unwiderstehlichen Unlust» litt, seine Schularbeiten zu erledigen. Die analytische Klärung der dahinter liegenden Konflikte mit Schwester und Eltern «brachte dem intelligenten Mädchen rasche und völlige Herstellung. Auch die Arbeitsfähigkeit stieg wieder […] und die weitere Schullaufbahn nahm ihren normalen Verlauf» (1930, S. 421–426).
August Aichhorn – Erziehungsberater und Psychoanalytiker – wird wegen eines 17-Jährigen aufgesucht, welcher im Lernen plötzlich und unerklärlich zurückbleibt. Wie sich herausstellt, hat ihn der Vater beim Onanieren erwischt und hegt allerschlimmste Befürchtungen, dass dies Ursache des schulischen Versagens sei. Der Berater erklärt sich bereit, den Jungen zu behandeln – unter der Bedingung, ihm das Onanieren gestatten zu dürfen. Der Vater verlässt empört die Praxis – um einige Zeit später wieder zu kommen und erneut um eine Behandlung zu bitten. Der Berater bleibt bei seiner Bedingung und erst, als die Leistungen weiter sinken, lenkt der Vater nach Wochen zerknirscht ein. Einen Monat später hat der Junge wieder aufgeholt und arbeitet fleissig und erfolgreich (1932, S. 478–479).
Eine berührende Mitteilung macht Hedwig Just-Keri, die Lehrerin einer gut sechsjährigen Erstklässlerin. Sie lebt mit ihrer Mutter, der Vater hat die Familie vor einem guten Jahr verlassen und pflegt keinen Kontakt mehr. In der Schule kann sie – hochgradig zerstreut und verträumt – dem Unterricht nur kurzzeitig folgen. Beim Rechnen während individueller Nachhilfe fällt auf, dass das Kind zwar leidlich addieren kann, aber bei Aufgaben mit der Lösung 5 versagt. Die Lehrerin fragt, ob es etwas gegen die Zahl 5 habe, und hört ein gedehntes «Nein». Wochen später berichtet die Mutter, die Kleine habe nach ihrem Alter gefragt. Sie werde sieben, habe sie geantwortet. Schade, habe das Kind gemeint: «das schönste Alter ist drei und fünf Jahre. Ich möchte nie älter werden» (1930, S. 480–481).
Thesi Bergmann kann als Beispiel genommen werden, wie sich eine – analytisch gut ausgebildete – Nachhilfelehrerin auf ein Kind einlässt, ohne die Grenze zwischen psychoanalytischer Pädagogik und einer Kinderpsychoanalyse zu verwischen. Der Bericht (1937, S. 29–43) dokumentiert das Ringen um eine Klärung eines komplexen Beziehungsdreiecks von Mutter, Klientin und kleinerer beliebter Schwester. Die Spannungen stören das schulische Arbeiten der Klientin massiv. Im Schutze einer guten Übertragungsbeziehung gelingt es der Pädagogin, der Klientin schrittweise zu Erfolgserlebnissen zu verhelfen und ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Die Kombination von Nachhilfe und Gesprächen mit Klientin und Mutter entschärft die Problematik des hoch neurotischen Beziehungsgefüges immerhin so weit, dass das Kind eine anstehende schulische Prüfungshürde bewältigt.
Abgrenzungen zwischen Psychoanalyse und psychoanalytischer Pädagogik
Dass die psychoanalytische Pädagogik eine Gratwanderung zwischen den beiden Disziplinen versucht, war vielen Schreibenden bewusst. Vielerorts wird davor gewarnt, dass eine noch so begeisterte Lektüre psychoanalytischer Texte noch keine Lizenz zur Durchführung eigentlicher Kinderanalysen einschliesse.
Oskar Pfister – Pfarrer und einer der frühen Pioniere der Psychoanalyse in der Schweiz – macht sich in diesem Zusammenhang Gedanken um die Funktion eines «Schülerberaters» , welcher unentgeltlich alle Kinder und Jugendlichen in Nöten unterstützen könnte. Gleichermassen an die Schule angebunden und von ihr unabhängig sollte er auch Eltern und Lehrer beraten. Er sieht diese Arbeit nach «analytischen Gesichtspunkten» und verweist auf die «Kleinanalysen», wie sie Zulliger beschreibt, und die «segensreich» wirken können. Bei schwereren Problemen fordert er aber «regelrechte analytische Behandlungen» (1927, S. 288–290).
Zulliger selbst schreibt: Es war der Psychoanalyse vorbehalten, zu entdecken und nachzuweisen, dass intellektuelle Hemmungen meist tiefere psychische Hintergründe haben, und sie zu lösen. Unter Umständen gelingt dies schon dem psychoanalytisch orientierten Pädagogen . Bei schwierigeren Fällen ist angezeigt, die Hilfe psychoanalytischer Therapeuten in Anspruch zu nehmen (1930, S. 431).
Der Sekundarlehrer Willy Kuendig formuliert hingegen dezidiert: «Psychoanalyse in der Schule gibt es nicht» (1927, S. 69). Er führt an, was Lehrpersonen für ihre Zöglinge tun können und sollen. Aber dies sei «niemals Psychoanalyse, sondern analytisch orientierte Pädagogik , das heißt Erziehung, welche sich die Erkenntnisse der Psychoanalyse zunutze» mache (a.a.O., S. 70).
Nelly Wolffheim – Gründerin des ersten psychoanalytischen Kindergartens in Deutschland – zeigt sich erstaunt, wie viele Lehrer sich mit der psychoanalytischen Methode versucht hätten. Sie betont, dass «ohne eine gründliche spezielle Ausbildung und ohne Eigenanalyse die Ausübung des Analysierens (in welcher Form auch immer) unstatthaft» sei (1930, S. 387). Sie zeigt sich den Versuchen Zulligers gegenüber eher skeptisch, der – vor dem Hintergrund einer seriösen Ausbildung – analytisches Denken und Handeln auch in seiner Funktion als Dorfschullehrer pflegt.
Anna Freud nimmt zwar einen Erwartungsdruck pädagogisch Praktizierender wahr, in ihrer Ausbildung mit der Kinderpsychoanalyse vertraut gemacht zu werden. Solche unter Umgehung einer fundierten allgemeinen Ausbildung in Psychoanalyse machen zu können, sieht sie aber als unmöglich. Der Weg zur «vollen analytischen Ausbildung» und damit auch zur Kinderanalyse solle aber «dem in der Praxis bewährten Pädagogen und Heilpädagogen» offenstehen, «der die Mühe nicht scheut» (1932, S. 402).[1]
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