Forschungen rund um das Konzept des «productive failure» (Kapur, 2008, 2016) stellen fest, dass alleine die Art und Weise des Wissenserwerbs den nachgelagerten Transfer bereits in Form eines «high road»-Transfers beeinflusst. Lernende, die zu Beginn eine scheinbar unlösbare mathematische Aufgabe erhalten, lösen diese mehr oder weniger richtig oder falsch. Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die mit einem klassischen Instruktionsdesign respektive mit «well structured»-Problemstellungen konfrontiert wurden, konnten erstere im Nachtest im Oberflächenwissen zwar nicht besser abschliessen, dafür waren sie im Tiefenverständnis signifikant überlegen. Interessanterweise schlossen sie auch im weiten Transfer – also auf eine neu gelagerte «ill structured»-Problemstellung – signifikant besser ab.
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der Nobelpreisträger Kahnemann (2012). Bei der Forschungsfrage, ob Psychologie vermittelbar ist, stellt er fest, dass offensichtlich induktiv gelernte Konzepte auf neue Situationen besser transferiert werden als deduktiv gelernte Inhalte.
Die beschriebenen Ergebnisse zeichnen das Bild einer Transferrealität, in der Transfer nicht selbstverständlich ist und nicht als Ergebnis von formalisierter Ausbildung erwartet werden darf. Auch wenn in der neueren Zeit erste Forschungsergebnisse über diverse Bedingungen eines spezifischen Transfers vorliegen, wissen wir immer noch zu wenig über die Wirkfaktoren eines generellen Transfers (Klauer, 2011; Tonhäuser, 2017).
Determinanten für einen erfolgreichen Transfer müssen in drei Bereichen gesucht werden: in der Organisation des Funktions- respektive Anwendungsfeldes, im Lernfeld von Lernmassnahmen und beim Subjekt selbst.
Im Rahmen formalisierter betrieblicher Weitbildung sind folgende Determinanten der drei Bereiche empirisch entdeckt worden (Tonhäuser, 2017):
Organisation und Anwendungsfeld
•Unterstützung durch Kollegen und Vorgesetzte
•Feedback
•Die Möglichkeit des Anwendens im eigenen Funktionsfeld
•Abwechslungsreiche Arbeitsaufgaben
•Verbindlichkeiten
•Organisationsklima und Lernkultur
Lernfeld von Lernmassnahmen
•Praxisbezug der Inhalte und praxisorientierte Aufgabenstellungen
•Ähnlichkeit zwischen Lernsituation und Funktionsfeld
•Lernzielorientierung
•Situationsorientierung
•Unterstützung und Betreuung im Fehlermanagement
•Spezifische Transferunterstützungen im Bereich Rückfallmanagement oder Verhaltenstraining
Individuelle Faktoren
•Trainings- und Transfermotivation
•Kognitive Fähigkeiten
•Selbstwirksamkeits- und Kontrollüberzeugungen
•Bewertung von Nutzen und Relevanz
•Individuelle Zielabsichten
•Persönlichkeitsfaktoren wie Offenheit für Neues oder Gewissenhaftigkeit
Im Detail wissen wir über die einzelnen Faktoren noch wenig und ein Zusammenspiel der Faktoren ist noch lange nicht erforscht.
In ihrer qualitativen Studie über die subjektive Einschätzung verschiedener Akteure hat Tonhäuser (2017) im Bereich der individuellen Faktoren zusätzlich die Faktoren Vorwissen und Alter als Prädiktoren identifiziert. «Vorwissen» gilt als einer der bestens erforschten Prädiktoren für Lernerfolg (Wahl, 2005). Der soziodemographische Faktor «Alter» entspricht aber dem Klischee, dass mit zunehmendem Alter Interesse und Motivation für Weiterbildung abnimmt.
Im Bereich des Lernfeldes erweisen sich zudem Bedarfsgerechtigkeit, die didaktische Gestaltung der Weiterbildungsmassnahme, die prozessbegleitende Unterstützung des Transfers sowie die Expertise und Persönlichkeit der Lehrperson als transferwirksam.
Auf der Ebene der Organisation entdeckt Tonhäuser noch Freiwilligkeit als transferförderlichen Faktor.
Die von Tonhäuser explorativ und qualitativ ermittelten Faktoren für einen gelingenden Transfer wurden durch die subjektive Einschätzung verschiedenster Stakeholder ermittelt. Inwiefern und durch welche konkrete Gestaltung ein einzelner Faktor wirkt, bedarf der weiteren Forschung respektive der Auswertung von verschiedenen bereits durchgeführten Studien.
In der Lehrerbildung wurden in den letzten 20 Jahren Formen der kollegialen Beratung (Peergroups) angewandt und gerade auch in Bezug auf die Praxisbewältigung als eine Form der Transferunterstützung evaluiert (Schubiger, 2010). Solche Social-Support-Systeme stellen eine Verbindung zwischen Person, Lernfeld und Praxis her und erhöhen die Verbindlichkeit. Seit 10 Jahren setzen wir an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen über die ganze Ausbildung angehender Berufsfachschullehrpersonen diese Form der kollegialen Unterstützung systematisch um (Schubiger, Gerig & Rosen, 2014). Solche Formen werden zunehmend auch als selbstorganisierte Lernformen wie «working out loud» im betrieblichen Lernen probiert und stossen vor allem in Grossunternehmen zunehmend auf Anklang.
4.2Welcher Transfer funktioniert
Welche Schlüsse lassen sich daraus auf den Ausbildungsalltag ableiten? Welcher Transfer tritt mit grosser Wahrscheinlichkeit ein und welche Faktoren muss ich als Lehrperson beachten?
Abbildung 2: Was wirkt wie?
4.3Ruth lernt in der Höhle des Löwen
Ruths Erlebnisse entsprechen der empirischen Realität, nämlich dass wir unter Druck auf Verhaltensroutinen zurückgreifen, die nicht unserem Wissen und unserem erwünschten Selbstbild entsprechen. Wissen allein hilft Ruth also nicht weiter. Sie macht das einzig Richtige, indem sie versucht, in der Situation zu lernen, und das ist schwieriger als gesagt. Sie bedient sich der Vorsatzbildung, des mentalen Kontrastierens und schliesslich – nach dem Gelingen – des konkreten Handelns mit positivem Feedback.
Anitas Erfolg mit strukturgleichen Aufgaben bestätigt, dass durch geschicktes Vormachen mit Musterbeispielen eine Anwendung auf Aufgaben gleicher Oberflächenstruktur möglich ist. Die Aussichten auf einen grösseren Transfer in die Mechanik und Elektrotechnik sind jedoch schlecht, wird doch dieser weite Transfer von der Lehrperson einfach vorausgesetzt und nicht besonders unterstützt. Die empirische Forschung zeigt, dass dies eben nicht selbstverständlich ist. Bereits die Unterstützung mit einem weiteren modellierten Beispiel könnte hier grosse Abhilfe leisten. Allerdings wiederholt sich das «Drama» und die Frage darf erlaubt sein, ob hier nicht ein dysfunktionales Didaktikdesign vorliegt. Ansätze des «productive failure» oder des «induktiven Lernens» durch konkrete angewandte Beispiele zu Beginn der Lernsequenz könnten hier Leiden verhindern.
4.5Erich macht sich das Leben schwer – warum nicht einfach «the other way round»?
Die gut gemeinte Anlage praxis- und problemorientierter Hausaufgaben verlangt von den Studierenden einen unmöglichen weiten Transfer. Es ist bereits empirisch erwiesen, dass dies zu Misserfolgserleben bei den Studierenden führt und diese zusätzlich demotiviert. Erich ist gut beraten, wenn er einen derart grossen Transferschritt in kleinere Schritte unterteilt. Zudem könnte er diese Teilschritte mit Beispielen modellieren. Als vielleicht paradoxe Variante könnte er die gesamte Anlage umdrehen und mit unlösbaren Aufgaben in die Thematik einsteigen. In zahlreichen Gesprächen habe ich immer wieder festgestellt, dass Lehrpersonen der festen Überzeugung waren, echte Problemstellungen erst am Ende des Lernprozesses anbieten zu dürfen. Vieles spricht nach heutigem Forschungsstand dagegen.
4.6Hans ist auf gutem Wege
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