„Sein Held wird mit der zweifelhaften Gabe begnadet, die Menschen in ihrer wahren Gestalt zu sehen. Schon will er, an der Welt verzweifelnd, sich selbst den Tod geben, als ein armes Mädchen, ein anderes Kätchen von Heilbronn, die Prüfung standhält und ihn durch ihre demütige Liebe dem Leben und dem Glück zurückgewinnt.“ (59)
In dem 4 Akte und 1412 m langen Streifen, Mit-Regie Stellan Rye, Kamera Guido Seeber, spielte der bekannte Theater-Schauspieler Alexander Moissi die männliche Hauptrolle, mit dessen Art der Darstellung Ewers allerdings nie zufrieden war. Moissi hatte es sich in den Kopf gesetzt, von der Pantomime auszugehen, und dies rief den Unmut von Ewers hervor: „ich flimmere hier mit Alexander Moissi u. i. v. Moissi ist der gräßlichste Tenor, den man sich denken kann ganz unintelligent und blöd, es ist eine Qual derart zu arbeiten.“ (60) Seine Einschätzung teilte zumindest der Rezensent des ‚Der Kinematograph‘ nicht (61); dieser lobte nach der Uraufführung, die am 9.1.1914 anlässlich der Wiederöffnung der ‚U.-T.-Lichtspiele‘ am Berliner Alexanderplatz stattfand, nicht nur die herrlichen Naturaufnahmen, sondern auch das vorzügliche Spiel der Darsteller und besonders das von Alexander Moissi – er leihe dem Ole Brandis den Reiz seiner Persönlichkeit. Auch die ‚Deutsche Bioscop-Gesellschaft‘ wies in ihrem ‚Begleitheft‘ zum Film darauf hin – und dies war nicht gerade ein Lob für den Manuskriptschreiber Ewers –, dass der „... an sich spröde Stoff, der an alle Darsteller die höchsten künstlerischen Anforderungen stellt, namentlich von Moissi derartig gehandhabt worden (ist), daß dem Beschauer die psychologischen Unmöglichkeiten möglich und folgerichtig erscheinen.“ (62)
Überhaupt scheint Ewers während und nach den Aufnahmen zu diesem Film, die wohl im Juli/August 1913 stattfanden, festgestellt zu haben, dass es zwischen seinen ideellen theoretischen Vorstellungen über die Möglichkeiten des ‚Rollfilms‘ und der praktischen Filmarbeit doch einige Unterschiede gibt – so schrieb er Ende August 1913 auf einer Postkarte an seine Mutter: „langsam wird mir die Filmerei nun auch über, aber ich muß erst die begonnenen Sachen wenigstens beendigen!!“ (63) Zu diesen hatte auch der schon am 30.7.1913 zensierte, 4 Akte und 1540 m lange Streifen EVINRUDE, DIE GESCHICHTE EINES ABENTEURERS gehört – die Uraufführung fand aber erst am 21.2.1914 statt:
„Im Vorspiel werden wir in das Getriebe des wilden Westens, in den Goldgräberdistrikt und in die Prärie geführt, während sich das eigentliche Drama in Berlin, bald im fashionablen Klubhaus, bald im Salon der Gesellschaft, bald im eleganten Motor- und Segelboot, bald auf der primitiven Zille, abspielt.“ (64)
Hanns Heinz Ewers spielte unter dem Namen seines literarischen ‚alter ego‘ Frank Braun die Rolle eines Ingenieurs Addison; ein sich in seinem Nachlass im Düsseldorfer Heine-Institut befindliches Foto zeigt ihn aber auch, wie er – offensichtlich in seinem Manuskript blätternd – einer ihm zuhörenden Gruppe von Schauspielern Anweisungen erteilt. Vermutlich hat Ewers auch für diesen Film einige Szenen selbst inszeniert. Die Kamera führte wie bei den Streifen DER VERFÜHRTE, DER STUDENT VON PRAG, DIE AUGEN DES OLE BRANDIS und dem weiter unten besprochenen Film EIN SOMMERNACHTSTRAUM IN UNSERER ZEIT ‚Aufnahme-Operateur‘ Guido Seeber. In einem Artikel in der Filmzeitschrift ‚Der Kinematograph‘ wurde darauf hingewiesen, dass dieser Film, der ein Stück echter Romantik mitten im Alltagsleben darstelle, mit dem STUDENT VON PRAG, trotz Verschiedenheit des Milieus, Berührungspunkte habe: die ‚Helden‘ seien in beiden Filmen Charaktere, „die sich nicht einordnen noch unterordnen lassen; Menschen von starken Lebensbedürfnissen, Herrennaturen, die an dem eigenen unbeugsamen Ich zugrunde gehen.“ (65) Lobend erwähnte der Schreiber des Artikels auch die Charakterisierungskunst der Schauspieler und die Massenszenen. 1921 kam der Film – in einer um 115 m gekürzten Fassung – unter dem Titel EVINRUDE noch einmal in die Lichtspielhäuser.
Für den im März 1914 uraufgeführten Film EIN SOMMERNACHTSTRAUM IN UNSERER ZEIT transponierte Ewers – der zusammen mit Stellan Rye das Manuskript schrieb – das Shakespearsche Stück auf ein Rittergut und ins 20. Jahrhundert, „ohne freilich ganz auf Shakespeares Figuren zu verzichten – die (weibliche Hauptdarstellerin Grete, R.K.) Berger spielte den Puck gerade mit großem Erfolg auf dem Deutschen Theater. Die Atmosphäre der im Programm abgedruckten Bilder erinnert stark an die erfolgreichen Märchenfilme, die Wegener in den nächsten Jahren drehte (‚Rübezahl‘ usw.).“(66) Ewers selbst hielt diesen 4 Akte und 1395 m langen Streifen für den schönsten seiner Filme (67):
„Hier wie dort (Film/Theater, R. K.) tritt Puck, der neckische Geist, der alle Verwandlungen des Stückes schafft, als das Symbol der dichterischen Laune in Erscheinung. Zwei voneinander unabhängige Welten läßt er vor uns entstehen: Oberons Geisterreich und die Alltagswelt mit ihren von allerlei wirklichen und eingebildeten Sorgen und Kümmernissen erfüllten Menschen. Beide Welten ergänzen sich gegenseitig, die eine ist immer der Reflex der anderen, manchmal ein getreues Spiegelbild, dann und wann aber auch eine stark verzerrte Karikatur.“ (68)
Ewers, Rye und ‚Aufnahme-Operateur‘ Guido Seeber hatten mit diesem Film ein durchaus eigenständiges Werk geschaffen. EIN SOMMERNACHTSTRAUM IN UNSERER ZEIT war nicht eines der vielen verfilmten Theaterdramen im Repertoire der Kinematographen-Theater. Diese Tatsache diente einem Rezensenten sogleich dazu, um auf die Existenzberechtigung des Kinos neben dem Theater hinzuweisen; seines Dafürhaltens war sogar die harmonische Wechselwirkung zwischen Form und Inhalt in allen ‚Künstlerfilms‘ der ‚Deutsche Bioscop-Gesellschaft‘ auf das strengste gewahrt, „weshalb sie einen Merkstein in der Entwicklung der Lichtbildkunst bilden.“ (69) Außerdem gab es in diesem Film wieder viele tricktechnische Experimente. Ewers selbst schreibt, Ich-bezogen und das Können und die Experimentierfreude seiner Mitarbeiter vergessend: „Im ‚Sommernachtstraum‘ –habe ich dann die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten des Kinos nach jeder Richtung hin erprobt und gezeigt, wie im Filmdrama die tollsten Verwandlungsszenen und Märchenstimmungen zur Wirklichkeit werden. Während die Bühne die Träume des Dichters nur unter Aufgebot großer szenischer Mittel auszudrücken vermag und doch nur selten den Eindruck der Illusion verwischt, nimmt im Kino ein phantastischer Einfall konkrete Form und Gestalt an, und zwar in einer Weise, daß der Beschauer den Eindruck absoluter Naturwahrheit empfängt.“ (70)
Nur wenig lässt sich über seine letzten beiden verfilmten Manuskripte für die ‚Deutsche Bioscop-Gesellschaft‘ sagen; auch von ihnen gibt es, wie von fast allen anderen Filmen jener Jahre – eine Ausnahme ist DER STUDENT VON PRAG – keine Kopien mehr. Heute noch erwähnenswert an der 1914 uraufgeführten (71) ‚Phantastischen Komödie‘ DIE IDEALE GATTIN, die er zusammen mit seinem Freund Marc Henry (1872-?) schrieb, dürfte lediglich die Mitwirkung von Ernst Lubitsch (1892-1947) sein, während das nur 3 Akte und 811 m lange ‚Phantastische Drama‘ DIE LAUNEN EINER WELTDAME – welches vermutlich erst 1915 unter dem Titel KÖNIGIN DER LAUNE uraufgeführt wurde – von Ewers der Hauptdarstellerin Tilla Durieux „... auf den Leib geschrieben“ (72) worden war. Bei dem Film DIE LÖWENBRAUT, einem ‚Sensations-Drama‘, bereits 1913 bei der ‚Bioscop‘ realisiert, hatte Ewers offenbar nur die Produktionsleitung inne. Das Drehbuch stammte von seinem Freund Johannes Gaulke, Max Obal führte Regie bei dem Film, in dem u.a die Kammersängerin Emmy Destinn (1878-1930) in einem Löwenkäfig stumm einen Auftritt mit einer ‚Mignon-Arie‘ hatte.
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