Hans betrat vorsichtig das Zimmer und wurde sich einer weiteren Schwäche seines Plans bewusst. Wie sollte er seine Aynur zwischen all den schlafenden Frauen finden? Er wartete, bis sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten. An der Wand gegenüber gab es noch eine Tür. Hans sah sich um. Die Ausstattung des Zimmers war einfach, keine kostbaren Stoffe und aufwendig bestickte Kissen. Er zählte sieben schlafende Frauen und Mädchen. Offenbar war dies das Zimmer der Sklavinnen. Er pirschte zur Tür an der Wand gegenüber, öffnete sie einen Spalt und schlüpfte hinein. Hier war er richtig. Es roch nach teuren Ölen, und Gold schimmerte von allen Ecken. Es schimmerte, weil im Raum noch ein Öllicht brannte. Hans Herz setzte aus. Dort im Licht saß eine der Konkubinen und sah ihn an. Als sein Herz wieder schlug und kurz, bevor er in wilder Panik davonrennen wollte, bemerkte er, dass die Konkubine ihn nur mit abschätzigem Blick ansah und keinen Lärm machte. Auf ihrem Schoß lag eine Stickarbeit. Sie lächelte nun verführerisch. Dann huschte ein Erkennen über ihr Gesicht und sie lachte leise. Sie verdrehte die Augen und wies mit dem Kopf nach links. Hans begriff nicht. Sie stöhnte und verdrehte die Augen so weit, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Ihr Kopf zuckte nach links. Dort wehten zarte Tücher leicht im Wind. Ein Balkon. Hans verstand endlich. Er ging vorsichtig durch den Raum und betrat den Balkon. Dort saß im Mondlicht Aynur auf der Brüstung, die Arme um die angewinkelten Beine geschlungen, und blickte verträumt in die Ferne. Sie zuckte nicht zusammen, als sie Hans wahrnahm. Sie blieb starr in ihrer Position und riss die Augen weit auf. Hans traute sich nicht, sich zu bewegen.
»Ich bin Hans«, flüsterte er schließlich heiser, weil ihm nichts Besseres einfiel.
»Bist du wahnsinnig?«, raunte Aynur zurück und stieg von der Brüstung. Sie sprach Deutsch.
»Vielleicht«, antwortete er auf Deutsch. »Ich wollte dich sehen.«
»Aber das geht nicht. Wenn der Wesir das erfährt, sind wir beide tot.«
»Das wäre es mir wert.«
Sie lachte. »Du bist also wahnsinnig.«
Er deutete zurück in den Raum. »Die andere Frau … wird sie uns nicht verraten?«
»Gülsüm? Sie hat dich vom Garten wiedererkannt. Ich denke nicht, dass sie dich verrät. Sie hat selbst einen Galan.«
»Bin ich dein Galan?«
»Das wird sich noch zeigen«, sagte Aynur kokett. »Wo kommst du her, Hans?«
»Aus München, das ist in Bayern …«
»Ich weiß, wo München ist. Ich komme aus Straubing. Damals hieß ich noch Els. Lange her.«
Sie sahen sich schweigend an. Es war nicht der Augenblick, sich jetzt gegenseitig die Lebensgeschichten zu erzählen. Hans wollte sie so gerne berühren, ganz zart, nur mit den Fingerspitzen, nur am Arm oder an der Schulter, mehr nicht, aber er traute sich nicht. Sie nahm seine Hand in ihre, ein Schauer jagte durch seinen Körper. Dann begann eine rollige Katze zu schreien. Kurze Zeit später drangen aufgeregte Stimmen von irgendwoher, ein hohes Kreischen und Zetern. Hans erkannte, dass das Eunuchen sein mussten. Sie waren aufgeflogen. Wohin jetzt? Aynur fluchte leise. Hans sah panisch den Balkon hinunter. Er war zu hoch, um einfach springen zu können. Aber was blieb ihm anderes übrig.
»Nein«, sagte Aynur und deutete zum Dach hinauf. »Schnell, du kannst hier an der Seite hochklettern.« Sie deutete auf eine Rankpflanze, die bis zum Dachfirst wuchs. »Komm morgen wieder um die Zeit. Schnell.«
Sie streichelte seinen Handrücken und ging langsam in das Zimmer zurück. »Weißt du, was da wieder los ist, Gülsüm?«, fragte sie betont unbefangen.
»Keine Ahnung, Süße. Die Eunuchen wieder.«
Hans kletterte die Pflanze hoch und schwang sich über den First aufs Dach. Er krabbelte die Steigung hinauf, innerlich betend, dass die Ziegel nicht losrutschten. Das Ziegeldach endete an einer kleinen, zinnenbewehrten Mauer, dahinter war das Flachdach der Zitadelle. Hans sprang über die Mauer und rannte gebückt zu einem Kamin, in dessen Schatten er sich hockte. Niemand schien ihm zu folgen. Er beschloss abzuwarten und setzte sich. Sein Atem normalisierte sich langsam. Alles in allem war die Aktion recht erfolgreich verlaufen. Er hatte Aynur gesehen und gesprochen. Mehr noch, sie hatte ihn berührt! Er … Moment, atmete da nicht noch jemand? Er lauschte angestrengt. Tatsächlich. Da war jemand neben ihm im Schatten des Kamins. Hans entfuhr ein kleiner Schrei, als sich eine Hand auf seinen Arm legte. Er hörte ein »pssssst«, dann tauchte ein schwarzer Kopf auf. Ein Eunuch.
»Halt die Klappe«, raunte der Schwarze. »Oder willst du unbedingt entdeckt und geköpft werden?«
Hans blieb starr sitzen. Der Schwarze machte es sich neben ihm bequem.
»Siehst du. Geht doch«, meinte er nach einer Weile. Nach einigen weiteren Minuten brach der Eunuch das Schweigen und fragte im der Situation nicht ganz angemessenen beiläufigen Plauderton: »Und du? Wo kommst du her?«
Hans überlegte kurz, wie das gemeint war. Sollte er sagen, aus dem Harem? Doch so dumm würde der Schwarze in dieser Situation wohl kaum fragen. »Aus Bayern. Das ist in Europa. Und du?«
»Aus Darfur. Das ist ein Land südlich von Ägypten. Ich heiße übrigens Rafik.«
»Und ich Hans.«
»Hans? Was für ein komi…«
»Ja, ich weiß!«, unterbrach Hans genervt. »Sind dort alle Menschen so wie du? Ich meine Eunuchen?«
Der Eunuch lachte leise. »Was? Wie kommst du denn darauf? Wenn wir alle Eunuchen wären, wären wir längst ausgestorben.«
»Hä?«
»Sag mal, weißt du gar nicht, was ein Eunuch ist?«
»Na, so schwarze, verbrannte Menschen, denke ich.«
»Du bist ja ein Komiker.« Rafik lachte. »Verbrannt! Lustig. Pass auf, da wo ich herkomme, sind alle so schwarz wie ich. Das ist dort normal. Für mich war es auch ein Schock, als ich das erste Mal einen Weißen gesehen habe. Da dachte ich, das wäre ein Geist. Wie kann man nur so weiß sein? Das ist doch krank. Eunuchen sind kein Volk oder Stamm. Wir werden gemacht. Man schneidet uns alles ab, womit ein Mann Spaß haben kann. Eier und Schwanz. Alles weg. Die machen das, wenn wir Kinder sind. Viele überleben das nicht, weil es einfach brutal ist. Mit viel Blut und so. Alles kommt weg, damit wir keinen Trieb haben. Wir Eunuchen werden dann an die hohen Herren verkauft, die uns zum Schutz ihrer Frauen einsetzen. Wir sind ja keine Männer und können denen nicht gefährlich werden.«
»Das ist ja hart«, sagte Hans betroffen. »Du hast also … gar nichts?«
»Ja, fühl mal.« Er nahm Hans’ Hand und führte sie in seinen Schritt. Nichts. »Scheiße ist das. Wobei … ach, ich weiß ja nicht, wie es wäre, einen zu haben und damit rumzuvögeln. Scheint Spaß zu machen, oder?«
»Hmmm, ich weiß auch nicht.«
»Hast du noch nie?«
»Nein.«
»Oha, und dann machst du dich gleich an eine der Konkubinen ran?«
»Gar nichts mache ich«, empörte sich Hans.
»Ja, klar. Darum sitzt du auch nachts mit mir auf dem Dach über dem Harem.«
»Und warum sitzt du hier nachts mit mir auf dem Dach über dem Harem, wenn du gar nicht kannst, Rafik?«
»Gute Frage. Das willst du nicht wissen. Kleines Eifersuchtsdrama. Es ist auf jeden Fall besser, wenn ich abwarte, bis die sich da unten beruhigt haben.« Er schielte zu Hans hinüber.
»Eifersuchtsdrama? Wo ihr doch angeblich gar nicht könnt?«
»Es gibt auch andere Wege, sich zu amüsieren. Und daran sind meist junge Janitscharen beteiligt … oder alte Lustgreise.«
Hans schwieg und starrte den Schwarzen an.
»Du kapierst es nicht, oder?« Der Eunuch Rafik kicherte. »Lass es mich mal so sagen, hat dir schon mal jemand gesagt, was für sinnliche Lippen du hast, oder hat sich für deinen Hinterausgang interessiert?«
»Oh.« Hans verstand das mit den Lippen zwar nicht, aber das mit dem Hinterausgang. Seine Janitscharen-Orta hatte gut ein Jahr lang in mönchischer Abgeschiedenheit verbracht. Rund einhundert junge Burschen zwischen vierzehn und zwanzig Jahren, die keine Chance hatten, Mädchen kennenzulernen oder zu den Huren zu gehen. Nach knapp drei Monaten wurde das erste Mal einer der Jüngsten vergewaltigt. Die Jüngeren oder Schwächeren suchten sich daraufhin Schutz und zahlten dafür mit der Exklusivität ihrer Körperöffnungen. Für einige war das nicht neu, denn sie hatten bereits ihren Rittern gelegentlich in langen und einsamen Nächten in absolut jeglicher Hinsicht dienen müssen. Was ablief, durfte natürlich nie auch nur erwähnt werden, denn auf Sodomie standen schwerste Strafen, aber es war gängige Praxis. Was in den Waschräumen und Latrinen passierte, wenn keine Vorgesetzten in der Nähe waren, blieb die Sache zwischen zwei Burschen. Hans hatte mehrfach entsprechende Angebote bekommen, da er kräftig war und jeder wusste, wie heldenhaft er sich bei Nikopolis im wahrsten Sinne des Wortes geschlagen hatte. Aber Hans lehnte ab. Er interessierte sich wirklich absolut nicht für Jungs und blieb bei seiner rechten Hand. Manche hielten auch ihn und Yorick für ein Paar, weil sie fast immer zusammen herumhingen. Doch auch für Yorick war Hans nicht mehr und nicht weniger als der beste aller Freunde. Yorick selbst hatte zwei Schützlinge, doch er verhielt sich den Möglichkeiten nach so dezent wie möglich. Dass Hans seinen Freund mehr als einmal beim Sex überraschte – wobei die Tatsache an sich Hans weniger überraschte, als vielmehr Yoricks Vorliebe, sich mit seinen beiden Schützlingen gleichzeitig zu amüsieren –, war der räumlichen Enge in Bursa geschuldet gewesen. Seit sie nun im Feld standen, waren die Verhältnisse von Bursa, abgesehen von zwei bis drei Paaren, die einfach nicht voneinander lassen konnten, weitestgehend beendet.
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