Hans begriff. »Das ist ein Plan, ein Grundriss. Zwei Stockwerke. Die Zitadelle hat Erdgeschoss und darauf ein weiteres Geschoss.« Er strahlte Max an und gab ihm spontan einen Kuss auf die Wange. »Danke, Max, du bist der Beste! Begreifst du nicht, Yorick? Das ist der Palast. Die Anordnung der Räume – und wo das Kreuz ist, befinden sich die Konkubinen.«
»Meinst du? Na, vielleicht. Palast! Pfhhh«, Yorick blies die Wangen auf. »Ist doch grad mal eine kleine Zitadelle. Siehst ja, so viele Räume gibt es gar nicht.«
»Umso einfacher für mich«, sagte Hans strahlend. Er holte sein Heft und zeichnete die Grundrisse nach. »Falls ihr mich heute Nacht vermissen solltet, dann wisst ihr, wo ich sein werde.«
»Na gut«, meinte Yorick. »Ich komme mit.«
»Dazu brauche ich dich nun wirklich nicht.«
»Keine Angst. Ich komme dir bei deinen plumpen Annäherungsversuchen an das arme Mädchen sicher nicht in die Quere. Aber es kann ja sein, dass du Unterstützung brauchst, wenn die Eunuchen wach werden. Oder der Wesir. Oder die Janitscharen. Oder die Sklavinnen. Oder, oder, oder. Vor allem aber ist es immer gut, wenn jemand nicht völlig Beklopptes bei so einer Sache dabei ist. Einer muss klar denken können.«
»Hilf mir mal mit dem Felsen«, stöhnte Hans und versuchte, den schweren Stein zu bewegen.
»Da drüben liegt einer«, antwortete Yorick und deutete in die Nacht hinein.
»Was? Wo?« Sie verließen den Kastanienhain. Tatsächlich lag in einiger Entfernung am Bach ein regungsloser Mann. Sie sprachen den Mann an, nichts. Sie traten vorsichtig in seine Seite, nichts.
»Scheiße«, entfuhr es Hans, als sie ihn umgedreht hatten und er ihn im fahlen Licht erkannte. »Das ist der Bote, von dem ich dir erzählt habe.«
»Siehst du irgendwo einen Pfeil oder sonst eine Wunde?«
Sie untersuchten die Leiche und fanden zunächst nichts. Erst als sie sein Hemd öffneten, entdeckten sie eine Verletzung im Bauchbereich.
»Offenbar eine ältere Wunde, die aufgeplatzt ist«, vermutete Yorick. »Der arme Kerl ist hier zusammengebrochen und gestorben.«
Hans richtete sich auf und sah sich um. »Kein Pferd weit und breit.«
»Bestimmt abgehauen. Oder es hat einen neuen Besitzer gefunden.«
»Und jetzt?«, fragte Hans.
»Wie und jetzt? Wir haben was vor, oder?«
»Sollen wir ihn so liegen lassen?«
»Wir können ihn ja morgen früh finden, nicht wahr?« Yorick dachte wieder sehr praktisch. Hans nickte überzeugt.
»Moment noch.« Hans durchsuchte den Toten und fand das Siegel des Mir Ahmad von Amasya sowie einen Beutel voller Dinare. Das Geld ließ er liegen. Das Siegel nahm er mit.
Zu zweit schafften sie es schnell, den Felsen vom Einstiegsloch des Tunnels zu bewegen. Sie stiegen hinab und schoben den Felsen zurück. Sie standen in völliger Finsternis. Über ihnen der Fels und die Kastanien. Der Geheimtunnel, aus dem die Stadtdelegation bei der Belagerung von Konya gestiegen war, sollte Hans direkt in den Palast bringen. Hoffte er zumindest. Er tastete nach Schwefelholz und Zunder und entzündete damit die mitgebrachten Öllampen.
»Wahnsinn«, sagte Yorick, der in dem Tunnel kaum aufrecht stehen konnte. »Hoffentlich gibt es keine Fledermäuse hier. Und jetzt?«
»Jetzt gehen wir den Tunnel entlang zum Palast. Ich habe es dir doch erklärt.«
»Und wieso denkst du, dass der Tunnel in den Palast führt?«
»Weil das ein Geheimtunnel ist. Wer den angelegt hat, wollte nicht, dass alle ihn kennen. Und wer legt einen solchen Tunnel an? Sicher nicht der Abfallgrubenreiniger! Menschen, die heimlich rein und raus wollen. Wichtige Menschen. Herrscher, Stadtbeauftragte und so. Also wird der Tunnel zu einem wichtigen Gebäude in der Stadt führen. Und das wichtigste Gebäude in der Stadt ist der Herrschersitz. Logisch, oder? Der alte Ölmez hat mir gesagt, dass kaum jemand von dem Tunnel weiß und dass es dabei bleiben soll.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzte Yorick. »Und wenn der Ausstieg im Palast bewacht ist?«
»Geheimtunnel haben die Eigenschaft, geheim zu sein. Wie oft soll ich dir das noch sagen. Die alten Herrscher sind nicht mehr hier. Die neuen wissen davon nichts.«
»Du vergisst die Stadtabgeordneten.«
»Die leben nicht im Palast.«
»Hans, ich finde das hier immer noch Wahnsinn, aber lass uns gehen, bevor ich es mir anders überlege.«
Im schwachen Schein der Öllampen liefen sie schweigend den langen Gang entlang. Es ging leicht bergauf, das merkten sie. Langsam wurde es wärmer. Es gab keine Fledermäuse, nur ein paar Ratten, die erschrocken zur Seite sprangen. Schließlich kamen sie an eine Treppe, die steil hinaufführte. Die Wände waren nun gemauert. Offenbar bewegten sie sich innerhalb der Zitadelle. Dass die Stufen aufwärts führten, wertete Hans als gutes Zeichen. Die Räume der Konkubinen befanden sich laut Max’ Plan im Obergeschoss. Die Treppen endeten abrupt an einer schwarz gestrichenen Wand.
»Und jetzt?«, flüsterte Yorick. »Wie geht das hier auf?«
Hans untersuchte die Wand mit den Fingerspitzen und leuchtete in alle Ritzen.
»Gibt es da einen Mechanismus?«, fragte Yorick. »Oder ein Schloss?«
»Ich finde nichts«, antwortete Hans. Er drückte vorsichtig an verschiedenen Stellen. Nichts tat sich. Er fingerte in einem kleinen Spalt herum, ob sich da ein Hebel oder Ähnliches verbarg. Nichts.
»Scheiße«, fluchte er leise und drückte mit der Schulter gegen die Wand so fest er konnte. Nichts bewegte sich.
»Lass mich mal.« Yorick drängte sich vorbei, doch auch er konnte die Wand nicht bewegen. Er fummelte in dem kleinen Spalt herum und rüttelte. Immer noch nichts. Schließlich hakte er die Finger ein und zog. Geräuschlos glitt die Wand nach innen.
»Ziehen statt drücken«, murmelte Yorick zufrieden. »Moment«, zischte er Hans zu, der gleich losgehen wollte. »Erst mal das.« Er holte ein kleines Fläschchen aus seinem Mantel, entstöpselte es und schüttete sich eine Flüssigkeit auf die Handfläche. Damit rieb er Hans hinter den Ohren und am Hals ein. Es duftete verführerisch. »Rosenöl. Wir wollen doch nicht, dass du bei deinem ersten Schäferstündchen wie ein Iltis stinkst. Und jetzt machen wir besser die Lampen aus.«
Sie tasteten sich im Dunkeln durch den Türspalt in einen Raum, dessen Fenster zwar von leichten Tüchern verhangen waren, durch die aber etwas Mondlicht schimmerte. Die Tür schlossen sie leise. Sie war so geschickt in die hölzerne Wandvertäfelung eingebaut, dass man sie nur sah, wenn man wusste, dass es sie gab. Der Raum war prächtig ausgestattet mit üppigen Sitzkissen und einem Schreibpult. Sie schlichen weiter, Hans entdeckte die Zimmertür. Da ließ sie ein Knurren zu Salzsäulen erstarren. Das Knurren schwoll an und verebbte, dann schwoll es wieder an und verebbte. Das wiederholte sich einige Male, bis die beiden Burschen begriffen, dass da jemand gewaltig schnarchte. Sie waren im Gemach des Wesirs Memduh gelandet. Der dicke Mann schlief tief und fest in einem Berg von Kissen.
Hans und Yorick öffneten vorsichtig die Tür, keine Wachen in Sicht. Hans hatte sich den Plan von Max genau eingeprägt, erst links den Flur hinunter, dann rechts und noch einmal links. Dort war das Gemach der Konkubinen. Immer noch keine Wachen in Sicht. Und wenn, dann würde der Lichtschein der Fackeln, die die nächtlichen Patrouillen mit sich führten, ihr Kommen ankündigen.
»Gut«, sagte Yorick so leise, dass Hans ihn kaum verstand. »Du gehst jetzt rein und suchst deine Aynur. Ich warte hier. Wenn jemand kommt, gebe ich dir ein Zeichen.«
»Was für ein Zeichen?«
»Äh.« Yorick grübelte. »Ich miaue wie ein rolliger Kater.« Er kicherte.
»Und dann?«
»Dann? Keine Ahnung. Es ist dein Plan. Dann bist du auf dich allein gestellt.«
»Und du?«
»Um mich mach dir mal keine Sorgen. Ich komme schon irgendwie zurecht, falls jemand auftaucht. Mit Eunuchen werde ich leicht fertig. Los, beeil dich!«
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