Nach Reifenspuren Ausschau zu halten war sinnlos, vierzehn Tage Passatwind hätten die Kettenschneisen einer Panzerarmee ins Nichts geblasen. Ich ließ einfach den Blick schweifen, vielleicht hörte uns ja jemand, vielleicht sah uns jemand, vielleicht winkte uns jemand, folgte ansonsten meinem Instinkt, der mich weiter und weiter nach Norden, aber auch Richtung Talmitte zog, bis wir eine weitere Düne hinabglitten, wie meist mehr rutschend als fahrend, und ich ruckartig auf die Bremse trat, nur einen Meter oder so vor einer scharfen Abbruchkante im Sandboden.
Wir kamen zum Stehen, ich nahm den Gang raus, machte den Motor aus und mein Magen gab ein Geräusch von sich wie ein Korken, den man zurück in den Flaschenhals drückt, ein leises, feuchtes, protestierendes Reibungsquietschen. Vor mir erstreckte sich ein von Nord nach Süd verlaufendes Wadi, mehrere Meter tief, an dieser Stelle gut und gern hundert Meter breit, die steilen Wände gewellt wie Vorhänge, der Boden einladend eben und fest und gut befahrbar. Und in breiten Streifen entlang beider Ränder dicht bedeckt mit jungen, frischen Blüten.
Das sah nicht gut aus. Okay, es war ein schöner Anblick, nur leider überschattet von bösen Vorahnungen. Ich startete den Motor wieder, bugsierte den Truck ein Stück rückwärts, nahm wieder Kurs Richtung Norden, durch die Dünen, folgte dem Rand des Wadis bis zu einer Biegung, in der es das Ufer so weit ausgewaschen hatte, dass ich wie über eine Rampe ins Flussbett hinabfahren konnte.
Die ganzen mechanischen Kletterhilfen waren nun nicht länger nötig, also schaltete ich alles zurück auf normalen Fahrbetrieb. Bella nahm ihren Platz auf dem Beifahrersitz wieder ein, ich wählte einen tiefen Gang und wir krochen langsam das Wadi bergan, mein Magen eine Kakophonie von Quietschtönen. Die Felswände des Tals wuchsen links und rechts in die Höhe und rückten enger zusammen. Auch das Wadi wurde beständig schmaler, dabei steiler. Felsbrocken, die das Wasser aus den Bergen mitgebracht hatte, lagen verstreut herum, manche so groß wie ein Pkw. Ich umkurvte ein paar davon und stoppte dann abrupt. Ich hatte den Unimog gefunden. Oder besser, das Chassis. Oder noch präziser, seine vier Räder, denn mehr ragte nicht aus dem glattgewaschenen Sand heraus, nur zwei Paar Halbkreise mit Stollenreifen. Der Rest des Fahrzeugs war kopfunter im Sand verschwunden. Ich machte den Motor aus, kletterte aus der Kabine, ging nach hinten und ließ auch Bella raus. Sie sah sich um, folgte meinem Blick, ging zu den Reifen, schnüffelte eine Weile herum und verlor das Interesse. Keine Leichen unter dem Sand, hieß das. Nicht hier, zumindest.
Wir liefen ein Stück, weiter hoch. Selbst ohne Blüten sind die von den Wassermassen in Wände aus Fels und Sand gefrästen Schluchten oft von bizarrer Schönheit, laden zum Verweilen, zum Erforschen ihrer Nischen und Ecken, die Schatten bieten und Schutz vor dem unermüdlichen Wind.
Irgendwann wurde mir klar, dass wir in der falschen Richtung unterwegs waren. Das Wadi wurde eng und enger, seine Wände höher und höher. Was immer sich hier vor der Flut befunden hatte, es war weg, fortgerissen.
Zurück im Truck wendete ich, legte den Zweiten ein und wir rollten mit Standgas talabwärts. Nach ungefähr einer Stunde fand ich den Campingaufbau des Unimogs, zusammenfaltet wie ein plattgetretener Karton und halb unter Schwemmsand begraben. Ich hielt an, ließ Bella raus, packte eine Flasche Wasser, das GPS-Gerät und die Nikon in einen kleinen Rucksack, griff mir den Spaten. Wir besahen uns den Aufbau, der mit einer Fensterseite nach oben dalag. Ich brach das Fenster raus, Bella und ich steckten unsere Köpfe in die Öffnung. Das Innere war halbvoll Wasser und Sand gelaufen, ein Durcheinander aus Textilien, Utensilien, Flaschen, Dosen, zerschmetterter Einrichtung, roch aber unverdächtig, einfach nur nass.
Spaten auf der Schulter, Bella dicht bei mir, setzte ich meinen Weg zu Fuß fort. Noch hatten wir zwei Stunden Tageslicht zu erwarten. Nach rund einer Stunde schreckte mich Bella mit einem kurzen Aufheulen aus meinen Gedanken. Nase dicht über dem Boden lief sie in enger werdenden Kreisen um eine bestimmte Stelle herum, bevor sie mit den Vorderpfoten zu scharren begann. Ich sagte: »Lass mich mal«, sie machte Platz und ich stieß den Spaten in den kompakten Sand. Nur ein paar Minuten später gab ich auf. Das Loch lief unaufhaltbar voll Wasser, das Wasser brachte neuen Sand, ein Weitergraben war sinnlos. Ich holte das GPS-Gerät hervor, speicherte die Position und wir gingen weiter.
Dreißig Minuten später ragte vor uns ein Fuß aus dem Flussbett. Ein menschlicher Fuß, oder besser gesagt das, was davon noch übrig war, abgenagt und jetzt schon UV-gebleicht. Die Sonne sank, also machte ich mich zügig ans Graben, immer rings um das senkrecht im Sand steckende, nackte Bein. Verwesungsgeruch stieg auf und wurde mit jedem Spatenstich schlimmer, bis auch hier in einer Tiefe von gerade mal einem halben Meter Wasser von allen Seiten einbrach, wofür ich, ganz ehrlich, mehr als nur ein bisschen dankbar war. Spätestens im Frühjahr sollte der Boden weit genug durchgetrocknet sein, um die beiden zu bergen, doch bis dahin war das praktisch unmöglich. Position gespeichert, machten wir uns in rasch fallender Dunkelheit und unter einem theatralisch heraufziehenden Sternenhimmel auf den Rückweg. Bella war vergnügt, all die Blumen, die Feuchtigkeit im Boden, das frische Grün waren Musik für ihre Nase, doch ich fühlte mich leer, enttäuscht, irgendwie mitgenommen. Die beiden Schweizer hatten keinen großen Fehler gemacht, keine Idiotie begangen, nichts, wofür man sich an den Kopf packen müsste. Sie waren einfach nur einem trockenen Flussbett gefolgt, das möglicherweise seit Jahren kein Wasser gesehen hatte und so wirkte, als ob es auch Jahrhunderte gewesen sein könnten. Was also sollte schon passieren? Ja, genau.
Es gab Spaghetti, mal wieder, gefolgt von Opiumdampf und Pfefferminztee. Die Mondsichel wanderte den Himmel hoch, tauchte das Wadi in fahles Licht, und ohne Wind war die Stille vollkommen. Ich holte mein SatPhone raus und schickte die traurigen Neuigkeiten zusammen mit den Geo-Koordinaten nach Lausanne. Ein halbe Stunde später kam die bange Frage, ob ich mir sicher sei, was ich mit einem bedauernden Ja beantwortete. Danach kam nichts mehr außer bestürztem Schweigen. Kristof ›Hiob‹ Kryszinski, auch ›Bad News‹ genannt. Fünf Tage unterwegs und vier gefundene Leichen waren ein neuer persönlicher Rekord, wenn auch kein richtiger Grund zum Feiern. Sitzen und Grübeln half allerdings gar nichts, deshalb rief ich Bella und wir wanderten noch mal ein Stück das Wadi hoch, durch eine von reißenden Fluten surreal geformte Landschaft in vergänglicher Blüte, monochrom im Mondschein, bis es irgendwann Zeit wurde für die Koje.
Die Sonne weckte mich, wie üblich, zu Bellas uneingeschränkter Begeisterung, und während unserer Morgenrunde zog ich Bilanz, versuchte meine gedrückte Stimmung zu verscheuchen. Ich hatte niemanden auf dem Gewissen, ich hatte nur gesucht, gefunden, Meldung gemacht. Haken dahinter. Mehr war von mir nicht zu erwarten, mehr gab es nicht zu tun, nichts weiter dazu zu sagen. Die kommenden Tage konnte ich mich treiben lassen, musste nur den Spritverbrauch im Auge behalten, alles andere war in beruhigendem Maße vorhanden. Also. Rückkehr zur Normalität.
Nach dem Frühstück blickte ich dem Truck unter die linke, dann die rechte Seite der schmalen Schnauze, füllte Öl und Kühlwasser nach, holte den Luftfilter aus seinem Gehäuse, blies ihn aus und setzte ihn wieder ein, warf einen kritischen Blick auf die Keilriemen und den generellen Zustand aller Kabel und Leitungen, fand nichts, was mein Eingreifen nötig gemacht hätte, und verriegelte die Klappen wieder. Zog den spiralförmigen Druckschlauch in die Länge, einmal ums Auto, und brachte die Reifen wieder auf ihren normalen Luftdruck. So.
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