»Matt? Es ist dein Dad. Er ist im Krankenhaus.«
Matt hörte Geräusche im Hintergrund: fremde Stimmen, ein leises Piepen, ratternde Wagen auf Linoleumboden. Klang, als wäre Gary selbst im Krankenhaus. Matt wurde übel. »War es ein Unfall?«
»Oh nein. Ihm ist nur zu Hause schwindlig geworden und er ist gestürzt. Ich persönlich glaube, dass es eine Panikattacke war. Aber sie wollen einige Tests durchführen, für den Fall, dass es ein Schlaganfall war. Ich dachte, das solltest du wissen.«
»Ein – was?«
»Matt, bleib ruhig. Es geht ihm gut. Er ist bei Bewusstsein und genauso klar im Kopf wie immer. Er hat sogar gesagt, dass ich dich nicht anrufen soll, weil du auf dieser geschäftlichen Veranstaltung in London bist…«
»Ich mache mich sofort auf den Weg. Ich nehme ein Taxi.«
»Gott, aus dem Zentrum von London? Das kostet…«
»Scheiß drauf«, sagte Matt leise und grimmig und legte auf.
Sein Herz hämmerte, als würde ein irrer Drummer in seiner Brust sitzen, und sein Mund war trocken. Er sah zu Joe hinüber, der vor der Sitznische stand. Auf dem Tisch waren zwei halb geleerte Biergläser und ein kleines weißes Rechteck. Matt nahm an, dass es Joes Visitenkarte war. Er würde Matt wahrscheinlich bitten, ihn anzurufen. Sie könnten etwas trinken gehen, in einem weniger einschüchternden Lokal, weniger formell als ein Business Dinner im Claridge's. Spaß haben. Mehr von diesen überwältigenden Küssen tauschen.
Joe hatte eine fragende, besorgte Miene aufgesetzt. Er konnte wahrscheinlich erraten, dass es etwas Ernstes war. Matt wusste, dass sein Gesicht meistens ein offenes Buch war. Joe tat einen Schritt auf ihn zu, die Hand ausgestreckt, wie um seine Hilfe anzubieten.
»Ich muss gehen. Ich muss gehen.« Matt wusste nicht, ob Joe ihn aus der Entfernung hören konnte. Er konnte nicht klar denken. Konnte nicht an den großen, gut aussehenden, gepflegten jungen Mann denken, der ein paar Bier mit ihm getrunken hatte und die Beziehung vielleicht sogar vertiefen wollte.
Stattdessen drehte er sich abrupt um und eilte aus der Bar und auf die immer noch belebten Londoner Straßen hinaus.
»Das geht nicht. Keiner von denen ist geeignet.«
Joel hörte, wie der scharfe Unterton in seiner Stimme von den nackten Wänden des Sitzungssaals von Starsmith widerhallte. Aber es kümmerte ihn nicht – konnte ihn nicht kümmern. Sein Team durchkämmte Starsmiths Designportfolio schon seit einer Woche und war Inspiration für Project Palace nicht ein Stück näher gekommen.
Die offizielle Ankündigung, dass Starsmith Stones der ausgewählte Designer für die königliche Hochzeit sein würde, stand erst in ein paar Wochen an, obwohl in den Medien bereits spekuliert wurde. Das würde der Beginn öffentlicher Euphorie, großer Aufregung und hoher Erwartungen an das Project Palace-Team sein. Es war natürlich der wichtigste Auftrag, den Starsmith je bekommen hatte, aber Joel hielt das Planungsteam vorerst so klein wie möglich. Zum Teil, weil Verschwiegenheit notwendig war, aber auch weil er hoffte, sie so lange wie möglich vor strenger Beobachtung und Stress zu bewahren. Die Arbeit an ihren Plänen für den Palace war im Moment genug für sie.
Der Head of Design, Addam de Broek, ein lebhafter, junger schwarzer Mann, dessen Designeranzüge immer etwas zu exzentrisch für die Stadt waren, seufzte dramatisch und warf sich in seinem Stuhl zurück. »Verdammt, Joel. Mehr haben wir nicht in der Datenbank. Und ich bin stolz auf die Arbeit meiner Designer, möchte ich bemerken.« Die rote Haarsträhne zwischen seinen schwarzen Locken fiel ihm bei der übertriebenen Reaktion in die Stirn. »Sie haben 2014 mit unserer Rose Collection eine Auszeichnung gewonnen und im Jahr danach mit der Constable Collection. Und die Diamanthalsketten aus der Jubilee Collection von 2012 verkaufen sich immer noch.«
Er musste nicht erst sagen Und das war, bevor du überhaupt zu uns gekommen bist, damit Joel den Vorwurf verstand. Starsmith hatte einen langjährigen und gefeierten Ruf als Designer edlen, eleganten Schmucks.
»Für diesen Auftrag will ich etwas ganz Besonderes.« Joel strich mit der Hand über die Zeichnungen auf dem großen Tisch. Der Sitzungssaal war der größte Raum im Büro und er hatte ihn für die Dauer von Project Palace übernommen. Papiere und Hochglanzfotos bedeckten beinahe die ganze Tischfläche. »Etwas, das noch nie zuvor gesehen wurde. Etwas Einzigartiges.«
Die zwei Marketingvertreter, Lily und Freddie, die sich mit ihren blassen, aristokratischen Zügen und weißblonden Haaren zum Verwechseln ähnlich sahen, schlürften abwechselnd von ihren Kaffees.
»Ich weiß zwar die Macht von etwas völlig Neuem zu schätzen…«, begann Lily.
»… was ja auch der Kern dieses ganzen Hochzeitsevents ist…«, fügte Freddie hinzu und läutete damit ihre vertraute Sprechweise ein, bei der sie sich gegenseitig ergänzten.
»… aber es gibt doch gewisse Erwartungen vom Markt, was die Firmenmarke betrifft…«
»… und auch von der Königsfamilie selbst.«
Joel nickte, allerdings eher höflich als zustimmend. »Das weiß ich. Ich habe wie alle hier das offizielle Briefing vom Palace gelesen. Aber das bedeutet nicht, dass wir keine Kollektion schaffen können, die nicht nur den Bedarf nach britischem Stil und Geschmack befriedigt, sondern auch außerordentliche, zeitlose Schönheit zeigt. Majestätische Pracht.« Über die letzten Worte wäre er beinahe gestolpert. Er erkannte, dass er etwas wiederholte, das er erst vor einer Woche gehört hatte – Matts intensive, leuchtende Augen, seine feste Meinung, der Geschmack seines Munds – und das verstörende, beinahe körperliche Erregung heraufbeschwor.
Teresa berührte in sanfter Unterstützung seinen Arm. »Wann ist die Deadline des Palace?«
Joel biss sich auf die Lippe. »Sie haben darum gebeten, die vorläufigen Designs einen Monat nach der offiziellen Ankündigung zu sehen. Außerdem wollen sie, dass der Prinz und Mr. Astra sie an mehreren Meilensteinen im Prozess absegnen.«
»Hurra!«, kam die ungezügelte Antwort von Lily oder Freddie – Joel war nicht sicher, wer von beiden es war, sie klangen oft genau gleich. Sie waren das enthusiastischste und am besten vernetzte Promotionteam, das er je erlebt hatte, aber sie schienen immer zu zweit zu denken und zu arbeiten.
Ein Klopfen an der geschlossenen Tür lenkte Teresa ab. Sie hörte sich die gemurmelte Neuigkeit von einem der Angestellten am Empfang auf dem Flur an und kehrte dann an Joels Seite zurück.
»Unten ist jemand, der das Designteam sehen will. Er sagt, er hat einen Anruf von Addam bekommen?« Sie runzelte die Stirn. »Der dumme Junge an der Rezeption hat nicht nach seinem Namen gefragt.«
Addam schwang sich schnell aus seinem Stuhl, seine Augen leuchteten. »Ist es einer der unabhängigen Designer, die ich angerufen habe?«
»Du hast in der letzten Woche mindestens 20 angerufen«, sagte Teresa mit einem Lächeln, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen. »Warum sollte irgendeiner antworten, obwohl du nicht sagen konntest, um was für eine Zusammenarbeit es geht?«
»Weil sie das Abenteuer mit offenen Armen begrüßen sollten!« Addam winkte herablassend mit der Hand und grinste jetzt breit. »Okay, bisher hatte ich wirklich nicht den Eindruck, dass irgendjemand von ihnen Interesse hätte, wie Teresa gesagt hat. Aber wenn es der Kerl ist, von dem ich bisher noch gar nichts gehört habe… Gott, dann könnte das die beste Neuigkeit von allen sein!«
»Was ist so besonders an ihm?«
Addam fuhr hastig und mit entzückter Miene fort. »Ehrlich gesagt war ich nicht sicher, ob er noch im Geschäft ist. Ich habe seit Ewigkeiten nichts Neues mehr von ihm gesehen. Er hat immer nur für sein Familienunternehmen gearbeitet und das ist seit einer Weile in einer finanziellen Flaute.«
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