Jack London - Abenteurer des Schienenstranges

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Jack London berichtet über seine Zeit als Tramp nach der Wirtschaftskrise gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Man lernt die Gefahren und Strapazen des Lebens als Landstreicher kennen. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Reisen als Hobo per Bahn auf einer Blindplattform oder unter dem Zug. Der Autor geht aber auch auf «General» Kellys Armee und auf einen Gefängnisaufenthalt ein.

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Abenteurer des Schienenstranges

Jack London

Inhaltsverzeichnis

Ein Bekenntnis

Blinde Passagiere

Zigeuner

Geschnappt

In gestreifter Tracht

Nächtliche Fahrten

Wie ich Landstreicher wurde

General Kellys Armee

Der Polizist

Impressum

Ein Bekenntnis

Im Staate Nevada wohnte eine Frau, die ich einmal andauernd, konsequent und schamlos mehrere Stunden lang belogen habe. Ich will mich nicht bei ihr entschuldigen, keineswegs. Aber ich möchte ihr eine Erklärung geben. Unglücklicherweise kenne ich ihren Namen nicht, und noch weniger ihre jetzige Adresse. Sollten ihr jedoch diese Zeilen zufällig vor Augen kommen, so hoffe ich, daß sie mir schreiben wird.

Es war in Reno (Nevada) im Sommer 1892. Dazu war Jahrmarkt und die ganze Stadt voller Spitzbuben und Taschendiebe, gar nicht zu reden von einer ungeheuren Horde hungriger Landstreicher. Diese hungrigen Landstreicher waren es, die die Stadt so ungastlich machten. Sie belagerten die Hintertüren der Bürgerhäuser, bis sich keine mehr öffnete.

Eine schlechte Stadt für brave Leute – so nannten die Landstreicher sie damals. Ich weiß noch, daß ich manches liebe Mal herumlief, ohne einen Bissen zu bekommen. Ja, so schlimm ging es mir in dieser Stadt, daß ich eines Tages dem Schaffner einen Streich spielte und den Salonwagen eines reisenden Millionärs enterte. Als ich auf der Plattform stand, fuhr der Zug ab, und ich stürzte auf besagten Millionär los, der Schaffner hinter mir her, um mich zu packen. Es wurde totes Rennen, denn ich erreichte den Millionär in demselben Augenblick wie der Schaffner mich. Ich hatte keine Zeit, viele Umstände zu machen. »Geben Sie mir einen viertel Dollar, damit ich mir Essen kaufen kann«, platzte ich heraus. Und so wahr ich lebe: der Millionär fuhr in die Tasche und reichte mir ... gerade ... genau einen viertel Dollar. Ich bin überzeugt, er war so verblüfft, daß er automatisch gehorchte, und ich habe später bitter bereut, daß ich nicht einen Dollar verlangte. Ich weiß, daß ich ihn bekommen hätte. Ich sprang vom Trittbrett, während der Schaffner versuchte, mir einen Tritt ins Gesicht zu versetzen. Es gelang ihm nicht. Man ist nicht mehr viel wert, wenn man von einem fahrenden Zuge abspringen muß, von dem Tritt eines Negerstiefels – Nummer fünfzig! – bedroht; aber jedenfalls: ich erhielt meinen viertel Dollar! Wahrhaftig!

Doch um wieder von der Frau zu erzählen, die ich so schamlos belog: Es war mein letzter Abend in Reno. Ich war auf der Rennbahn gewesen und hatte dabei mein Mittagessen eingebüßt. Ich war hungrig, und zudem war gerade eine Art Wohltätigkeitskomitee gegründet worden, um die Stadt von hungrigen Individuen meiner Art zu befreien. Die Polizei hatte sich schon eines Teils meiner Kollegen bemächtigt, und ich konnte gleichsam die sonnigen Täler Kaliforniens mich über die eisigen Zinnen der Sierra rufen hören. Zweierlei hatte ich noch zu tun, ehe ich den Staub Renos von meinen Füßen schütteln konnte. Erstens: einen Platz auf dem blinden Gepäckwagen des abends abgehenden Überlandzuges nach Westen zu erwischen. Zweitens: eine Mahlzeit zu erbetteln. Selbst ein junger Mann bedenkt sich, ehe er sich darauf einläßt, mit leerem Magen die ganze Nacht hindurch außen auf einem Zuge zu verbringen, der durch Tunnels und ewigen Schnee auf himmelanstrebenden Bergen dahinsaust. Aber dieses »Eine-Mahlzeit-Erbetteln« war keine Kleinigkeit. Ich hatte ein Dutzend Häuser vergebens abgeklappert. Zuweilen machte man unangenehme Bemerkungen über schwedische Gardinen, hinter die ich gehörte, wenn es mir nach Verdienst ginge. Das schlimmste von allem war aber, daß solche Behauptungen nur allzusehr stimmten. Deshalb wollte ich gerade am Abend machen, daß ich nach dem Westen kam. Das Auge des Gesetzes suchte sehr eifrig in der Stadt nach Hungrigen und Obdachlosen, denn für sie war das Haus mit den schwedischen Gardinen bestimmt.

Anderswo wurde mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, so daß ich mein höflich und demütig vorgebrachtes Ersuchen, mir etwas zu essen zu geben, jäh unterbrechen mußte. In einem Hause öffneten sie nicht einmal die Tür. Ich stand davor und klopfte an, und sie beguckten mich durchs Fenster. Ja, sie hoben sogar einen kräftigen kleinen Jungen hoch, damit er über die Schultern seiner Eltern den Vagabunden sehen konnte, der in ihrem Hause nichts zu essen haben sollte.

Es sah aus, als müßte ich zu den ganz Armen gehen, um mein Essen zu bekommen. Die ganz Armen sind die letzte, aber sichere Hoffnung des Vagabunden. Auf die ganz Armen kann man sich stets verlassen. Sie jagen niemals einen Hungrigen von ihrer Tür. Immer habe ich etwas zu essen bekommen, wenn ich zu den Hütten kam, wo die Löcher in den zerschlagenen Scheiben mit Lumpen verstopft sind.

O ihr Wohltätigkeitskrämer! Geht zu den Armen und lernt von ihnen, denn nur die Armen sind wirklich wohltätig. Sie geben weder vom Überfluß, noch versagen sie ihn, denn sie haben keinen Überfluß. Sie geben – und sie versagen nie – von dem, was sie selbst nötig und oft bitter nötig haben. Einem Hunde einen Knochen zuzuwerfen, ist keine Wohltätigkeit. Wohltätigkeit ist, den Knochen mit dem Hunde zu teilen, wenn man selbst ebenso hungrig ist wie der Hund.

Besonders aus einem Hause wurde ich an diesem Abend regelrecht hinausgeworfen. Die Fenster der Vorhalle gingen ins Speisezimmer, und drinnen sah ich einen Mann, der Pastete aß – eine große Fleischpastete. Ich stand in der offenen Tür, und er aß weiter, während er mit mir sprach. Er hatte Glück gehabt, und aus seinem Glück war Groll gegen seine weniger glücklichen Brüder erwachsen. Er unterbrach meine Bitte, mir etwas zu geben, mit einem schnarrenden: »Ich glaube, Sie haben keine Lust zum Arbeiten.«

Nun hatte das gar nichts mit der Sache zu tun. Ich hatte nichts von Arbeit gesagt. Der Gegenstand, auf den ich das Gespräch gebracht hatte, war lediglich »Essen«. Und ich hatte in der Tat keine Lust zum Arbeiten. Ich wollte heute nacht mit dem Überlandzuge weg.

»Ich glaube, Sie würden nicht einmal arbeiten, wenn Sie Gelegenheit dazu hätten«, knurrte er. Ich sah das bedrückte Gesicht seiner Frau und wußte, daß ich eine gute Portion von der Fleischpastete bekommen haben würde, wenn der Zerberus nicht dagesessen hätte. Aber der Zerberus saß da und schaufelte die Pastete in sich hinein, und ich sah, daß ich mich bei ihm beliebt machen mußte, wenn ich etwas erreichen wollte. Folglich ging ich seufzend auf seine moralischen Betrachtungen über die Arbeit ein.

»Natürlich möchte ich gern arbeiten«, schützte ich vor.

»Das glaube ich nicht«, schnaubte er.

»Versuchen Sie es«, antwortete ich und wurde jetzt selber warm.

»Schön«, sagte er. »Kommen Sie morgen früh an die und die Ecke.« – Ich habe die Adresse vergessen. – »Sie wissen, wo das Haus abgebrannt ist. Da werde ich Ihnen Arbeit geben; Sie können Steine tragen.«

»Schön, ich werde kommen.«

Er grunzte und aß weiter. Ich wartete. Nach einigen Minuten blickte er auf mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: ›Ich denke, Sie sind längst fort!‹, und fragte:

»Nun?«

»Ich ... ich warte darauf, daß ich etwas zu essen bekomme«, sagte ich höflich.

»Ich wußte ja, daß Sie nicht arbeiten wollen!« brüllte er.

Er hatte recht, selbstverständlich; aber er muß durch Gedankenlesen auf seinen Schluß gekommen sein, denn er konnte es durch nichts belegen. Aber der Bettler an der Tür muß demütig sein, und so beugte ich mich vor seiner Logik, wie ich mich vor seiner Moral gebeugt hatte.

»Sehen Sie, ich bin jetzt hungrig«, sagte ich immer noch höflich. »Morgen früh bin ich noch hungriger. Denken Sie sich, wie hungrig ich sein werde, wenn ich einen ganzen Tag Steine geschleppt habe, ohne etwas zu essen zu bekommen. Wenn Sie mir jetzt aber etwas zu essen geben, werde ich morgen ganz anders arbeiten können.«

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