Die beiden Kriminaler passierten den schmalen Durchgang zwischen Garage und Hauptgebäude und näherten sich über den gepflasterten Vorplatz dem Eingangstor. Das Tor war von den Kollegen aufgebrochen worden, damit die Spurensicherung nicht den ganzen Weg über die Wiesen nehmen musste.
Der Bauernhof, den die alternde Schauspielerin Nives Marell bewohnte, grenzte an den großen Dorfplatz, der sacht zu dem Hügel anstieg, an dessen Fuß der Kreuzweg begann und auf dem die Wallfahrtskirche stand. Um den Platz herum gab es vier Wirtshäuser, ebenso viele Cafés, drei große Hotels (alle in historischen Gebäuden) sowie zahllose Devotionalien- und Souvenirläden, in denen die Pilger ihr Geld loswerden konnten, nachdem sie beim Heiligen Zachäus von Palmyra oben in der Kirche ihre Gebete, und nicht selten ihre Wunschkataloge für ein besseres Leben, losgeworden waren. Die Häuser, die Richtung Kirche unmittelbar an den Marell-Hof grenzten, waren preisgünstige Massenherbergen für Pilger, die der Kirche gehörten, daneben das Gemeinde- und das Pfarrhaus. Schmuck renovierter Spätbarock.
Pfeffer fiel auf, dass das Anwesen der Diva, obwohl mitten im Ort gelegen, beinahe nicht einsehbar war. Vorne die Mauer mit der Einfahrt, auf der einen Seite die hohe Mauer des Nachbarhofs, auf der anderen Seite die fensterlose Rückwand der kirchlichen Herbergen, danach dann der Friedhof mit seiner ungewöhnlich hohen Mauer. Den Blick vom Hügel der Wallfahrtskirche versperrten wiederum die Herbergshäuser. Wer hier wohnte, konnte sich ganz zurückziehen und blieb vom Pilgertrubel unbehelligt. Wem nach Menschen war, musste nur nach draußen gehen, um mitten im Leben zu stehen. Vom Dorfplatz und damit vom Hof weg führte die Straße Richtung Ortsausfahrt. Mehrere historische Gehöfte zu beiden Seiten der Straße und dann, je näher man den Ortsschildern kam, die unvermeidlichen Bausünden der Fünfziger bis Siebziger sowie ein Neubaugebiet. Vor dem Ortschild die großen Parkplätze für die Busse, denn im Ort herrschte Lkw- und Busfahrverbot.
Ein paar Schaulustige hatten sich in gebührendem Abstand zum Marell-Hof versammelt und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen, als sie die beiden Kriminalbeamten aus dem Eingangstor kommen sahen. Der Eingang, so fiel Pfeffer auf, wurde von zwei unauffällig angebrachten Videokameras überwacht.
»Guck mal, Fans«, sagte Bella Scholz. »Levent hat mir übrigens gesagt, dass sie unglaublich fett sein soll. Ich meine, in ihren Filmen ist sie ja eh üppig beieinander, aber die soll nun richtig eff e te te sein.«
»Hab ich auch gelesen.«
»Du kennst dich aber aus.«
»Stand neulich irgendwo.«
»Beim Friseur?«
»Bestimmt.«
»Aber sie muss immer noch unglaublich gut spielen.«
»Das hat bekanntlich nichts mit dem Gewicht zu tun.«
Sie standen vor dem Nachbargehöft, einem lindgrün gestrichenen Spätbarockgebäude. Die Einfahrt mit Rundbogen aus Kalkstein, in den an der höchsten Stelle ›1784‹ gemeißelt war, wurde von einem schweren Holztor verschlossen. Pfeffer drückte den Klingelknopf, an dem kein Name stand. Es tat sich nichts. Er klingelte mehrfach. Keine Reaktion im Haus. Er war sich aber sicher, dass er eine Bewegung hinter einem Fenster im ersten Stock ausgemacht hatte.
»Dann müssen wir wohl morgen wiederkommen. Hast du Lust auf einen Eiskaffee?« Er deutete hinüber zu den Cafés am Dorfplatz. Trotz der einsetzenden Dämmerung herrschte reger Betrieb auf den Terrassen. »Ich lad dich ein.«
05
Sie hatten also ein Skelett gefunden. Das machte nichts. Sie atmete tief ein und aus. Kein Grund zur Panik.
Ein Skelett. In ihrem Garten. Nun denn.
Sie starrte hinüber zu der abgesperrten Fläche. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, den kleinen roten Elefanten schemenhaft auftauchen zu sehen, den sie am Strand nach dem Tsunami gefunden hatte. Nives Marell fuhr sich über die Augen, und plötzlich fiel ihr jener Abend drüben im Schwarzen Adler ein, als der Bürgermeister sich ungefragt an ihren Tisch gesetzt und zu ihr »Du, Schneck, geh, hör mal her, wir müssen reden« gesagt hatte. Nives Marell hatte kurz aufgeschaut und in aller Ruhe ihren Krustenschweinsbraten mit Knödeln und Blaukraut weitergegessen. Im Schwarzen Adler schmeckte er am allerbesten.
Der Bürgermeister nahm ihr schweigendes Essen als Einverständnis. Im Dorf sagte man, wenn einem was nicht passte – wenn man schwieg, passte es einem. Er war ein alter Spezi, den sie aus Kindertagen kannte, ein Hansdampf in allen Gassen, ein ausgefuchster Schlawiner, der mit jedem und allen konnte, jeden und alle kannte und seine Prinzipien nach dem aktuellen Wind richtete – kurz ein idealer Lokalpolitiker. Noch dazu nicht von der Staatspartei, sondern von den Freien Wählern. Außerdem hatten sie mal, als sie vierzehn und er siebzehn war, bei einem Dorffest ein klein wenig geknutscht. Seitdem nannte er sie ›Schneck‹. Später ging er dann dazu über, alle Frauen im Ort, die nicht älter als er selbst waren, ›Schneck‹ zu nennen. So konnte er nicht durcheinander kommen, bei den vielen, mit denen zumindest rumgeknutscht hatte. Fast alle nannten ihn Bäri, nicht nur wegen seiner Erscheinung, sondern weil er mit Nachnamen Baeringer hieß.
Was der Bürgermeister ihr damals bereits anvertraute, war, dass der Gemeinderat beschlossen hatte, Zacherlkirchen ins 21. Jahrhundert zu katapultieren, mit Breitbandinternet und Glasfaser und allem, was dazugehörte. Jedenfalls waren diese Schlagworte nur so aus ihm herausgepurzelt.
Da sie keine Ahnung von solchen technischen Finessen hatte, musste sie ihm glauben. Aus irgendeinem Grund war es also nötig, einen Graben von der Ortseinfahrt bis zur Kirche zu ziehen. Hintenrum, quer durch die Gärten, nicht vorne an der Straße. Denn wie sähe das denn aus, wenn die Pilger kommen, ohnehin schon schlimm genug, dass die Kirche gerade eingerüstet war – und dann die Unfallgefahr! Außerdem gäbe es da schon eine Trasse mit Kanalisation und anderen Versorgungsleitungen. Zudem sei eine Kanalsanierung dringend erforderlich. Also zwei gute Gründe zum Graben.
»Weißt, Schneck«, erklärte der Bürgermeister, »die anderen Anrainer haben schon zugestimmt, dass wir hintenrum graben. Da müssen wir nur durch sieben Gärten. Vorne an der Straße wäre das viel zu teuer. Ich wollt es dir nur jetzt schon sagen, bevor du den offiziellen Brief bekommst.«
»Die andern Anrainer, wie du es nennst, sind bis auf mich alles deine Verwandtschaft, Bäri«, entgegnete sie ohne aufzusehen.
»Das kann man so oder so sehen.«
»Das kann man nur so sehen. Ich habe also eh keine Wahl, oder?«
»Komm, Schneck, tu nicht so, als würd ich von dir was Unmögliches verlangen. Es wird anschließend alles wieder in den Originalzustand versetzt.«
»Wie schön.« Nives Marell schob sich eine Gabel voll Blaukraut in den Mund und kaute langsam. »Hat es einen Sinn, wenn ich dich daran erinnere, dass ich einer der größten Steuerzahler dieser Gemeinde bin? Ach, was heißt einer der größten. Die Größte.«
»Eben drum, Schneck. Eben darum informiere ich dich ganz persönlich vorweg auf dem kleinen Dienstweg. Du bist für unsere Gemeinde unentbehrlich. Es soll natürlich dein Schaden nicht sein. Weißt ja, wenn du mich mal brauchst …« Er ließ den Satz im Raum stehen.
»Ich bin nicht ganz blöd«, sagte Nives Marell. »Wenn ihr hinten in den Gärten aufgrabt, heißt das, dass die Felder jenseits des Bachs nun doch Bauerwartungsland geworden sind, oder?«
»Schneck«, flüsterte der Bürgermeister mit aufgerissenen Augen. »Das hat an der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Noch ist nichts beschlossen! Der Gemeinderat hat vorerst nur der Erneuerung der Kanalisation für die Kirchengebäude und der Verlegung der Glasfaserkabel zugestimmt. Alles andere ist Zukunftsmusik …«
»Die Bebauung hinter der Kirche und jenseits des Bachs ist verboten.«
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