1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 »Den was?«, fragte Annabella Scholz.
»Den Austrag.« Der Blaumann feixte. »Sie sind nicht vom Land?«
»Nein.«
»Der Austrag ist das Altenteil für Bauern«, sagte Max Pfeffer zu seiner Kollegin. »Wenn der alte Bauer dem jungen den Hof übergeben hat, dann zieht er sich ins kleine Austragshäusl zurück und lebt nur noch von dem, was ihm der junge Bauer zugesteht. Deshalb weigern sich viele Bauern, jemals in Austrag zu gehen.«
»Verstehe.« Die Kommissarin nickte.
»Ich denke, dass ein toter Austragbauer sicherlich vermisst worden wäre«, sagte Pfeffer. »Besonders hier auf dem Land.«
»Besonders hier auf dem Land?« Der Blaumann lachte dümmlich, und sein Kollege grinste verschämt. »Hier werden Sachen, die niemand vermissen will, von niemandem vermisst.«
»Sachen?«
»Sachen. Und Menschen halt.«
Pfeffer winkte einen Kollegen der Spurensicherung herbei. »Wenn Sie mit der Bestandsaufnahme an der Oberfläche fertig sind, graben Sie in einem zehn Meter Radius um die Fundstelle. Hier, die beiden Herren haben sicher noch ein wenig Zeit und außerdem einen Bagger. Wer weiß, vielleicht finden wir da eine Spur.« Er wandte sich zu dem Archäologen. »Oder vielleicht ein keltisches Gräberfeld.«
Heinrich Keppler seufzte. »Hoffentlich nicht! Wer sollte das denn sichten?«
»Weiß der Staatsanwalt …«, begann der Kollege von der Spurensicherung.
»Darum kümmere ich mich schon«, beruhigte Pfeffer. »Graben Sie.«
»Dabei können wir aber keinen Bagger brauchen, das muss mit Schaufeln gemacht werden«, grummelte der Mann von der Spurensicherung und entfernte sich mit den Blaumännern.
»Was passiert mit unserem Herren hier?« Die Rechtsmedizinerin deutete auf die Gebeine. »Soll der nun zu mir in die Asservatenkammer oder zu euch ins Museumsarchiv?«
»Als ob wir nicht schon genug Leichen im Keller hätten«, witzelte Doktor Keppler und schmauchte an seiner Pfeife. Keiner lachte. »Im Ernst. Funde wie dieser kommen in eine Kiste, fein säuberlich archiviert, und landen dann im Keller. Vielleicht nimmt sich irgendwann mal ein Student seiner an. Oder auch niemand. So unspezifische Funde interessieren keinen wirklich.«
»Dieser Herr hier kommt nicht in Ihren Keller, Doktor Keppler, dafür gibt es mir zu viele Konjunktive, sondern zu dir, Gerda«, sagte Pfeffer bestimmt. »Dass er keine Zahnplomben oder Kronen hat, hat nichts zu sagen, oder? Die können rausgebrochen worden sein. Kann man überprüfen, oder? Also eine Aufgabe für dich.«
»Maxl, unser Kandidat ist augenscheinlich lange, lange, laaaaange tot. Wirklich lange. Zur genauen Altersbestimmung brauchen wir meiner Meinung nach eine C-14-Analyse«, warf die Rechtsmedizinerin ein und drückte ihre Zigarette in einem kleinen Taschenaschenbecher aus.
»Und?« Pfeffer zuckte mit den Schultern.
»Wer zahlt das? Das kostet eine Kleinigkeit.«
»Das entscheidet der Staatsanwalt. Ich will nur auf Nummer sicher gehen.«
»Wem gehört eigentlich dieser Traum vom Landleben, Bella?«, fragte Max Pfeffer, während er und seine Kollegin vom Gemüsebeet weg über die Wiese Richtung Gebäude gingen. Das Gelände stieg sacht an. Ein paar alte Obstbäume standen verstreut herum. Unter einem Apfelbaum, dessen Zweige sich vom Gewicht der gelb-roten kleinen Äpfelchen gen Boden bogen, summte und brummte es: Bienen und Wespen labten sich an den abgefallenen Äpfeln, die halb verfault auf der Erde lagen. Die Zwetschgenbäume hingegen schienen bis auf wenige Früchte, die hoch oben in den Kronen noch bläulich schimmerten, komplett abgeerntet. Zwischen dem Haupthaus und den beiden Nebengebäuden, da, wo in alten Höfen sonst ein Bauerngarten angelegt war, hatte der Besitzer ein lauschiges Terrassenparadies mit Terrakottakübeln voller Wandelröschen-Bäume und Oleander unterschiedlichster Farben geschaffen.
»Der Hof gehört einer gewissen …«, Annabella Scholz blätterte in ihrem Block herum. »Hat so einen komischen Namen, einen ganz komischen … hier: Nives Marell.«
»Nives Marell?« Pfeffer pfiff durch die Zähne. »DIE Nives Marell? LA Nives?«
»Ja, vermutlich, was auch immer du mit DIE oder LA meinst. DIE oder LA ist übrigens nicht da. Es ist gar niemand da. Die Kollegen haben aber schon mit ihr gesprochen. Sie weiß Bescheid, sie ist noch in der Stadt unterwegs. Kommt morgen früh zu uns ins Präsidium.«
»Dann gehen wir einfach mal zu den Nachbarn. Und bitte, erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, wer Nives Marell ist! So häufig ist der Name wohl nicht, Bella. Noch dazu, wo jetzt dein Hase mit ihr auf den Brettern steht, die die Welt bedeuten.«
»Levent mit Nives Marell? Ach, die soll das sein?! Nives Marell. Klar, logisch. Dann hatte sie heute Proben am Theater. Müssten aber schon vorbei sein.« Annabella Scholz sah auf ihre Uhr. »Levent guckt sich momentan alle Fritz-Roloff-Filme an. Teilweise happige Kost. Ehrlich gesagt, kannte ich die Marell vorher gar nicht. Nie von der gehört.« Die Kommissarin war zu jung, um die Glanzzeit der Nives Marell erlebt zu haben. Sie machte auch keinen Hehl daraus, dass sie in manchen kulturellen Aspekten mit ihrem Lebensgefährten Levent Demir nicht mithalten konnte und wollte. Die als künstlerisch wertvoll gehandelten Filmemacher-Filme der Sechziger- und Siebzigerjahre langweilten sie bis ins Mark.
Ihr Freund Levent war ein bekannter TV-Star, der jahrelang mit seiner Action-Krimi-Serie ›Mörderischer Einsatz‹ Traumquoten erzielt hatte. Doch Levent Demir war auch ein Künstler, ein ernsthafter Schauspieler, der sein Handwerk an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule gelernt hatte und mit der Rolle des muskelbepackten Testosteronbullen, der erst schießt und dann denkt, mehr als unterfordert war. Er war unglaublich stolz, als er die Rolle des Kanaken in der Jubiläumsinszenierung von ›Kanakenbraut‹, dem berühmten Erstlingswerk von Fritz Roloff, bekommen hatte. Noch dazu am Residenztheater, einer der führenden Bühnen Deutschlands, in einer Inszenierung des Intendanten Hannes Wachsmuth. Ein Ritterschlag. Als absolutes Highlight dann auch noch die Tatsache, dass das Stück mit alten Weggefährten von Roloff realisiert wurde – allen voran der legendären Nives Marell. Levent schwebte seitdem auf Wolke sieben und haderte nicht einmal damit, dass er gut die Hälfte der Zeit seines Auftritts nackt sein musste. Er sah sich jeden Roloff- und jeden Marell-Film an, der im Fernsehen lief. In der Regel im Nachmitternachtprogramm.
Annabella schaute oft mit, meist total gelangweilt. Einmal rutschte ihr ein ›ödes Betroffenheitsgesumse aus den Siebzigern‹ raus, da wurde Levent richtig wütend und nannte sie ohne einen Funken Ironie einen »ignoranten Eisklotz aus den Zweitausendern«. Dabei hatte sie sich noch nicht einmal über die – ihrer Meinung nach – laienhafte Schauspielerei der Akteure und die stümperhaften Dialoge mokiert. Es kostete sie nach Ende des Films auf dem Sofa noch alle erdenkliche Mühe, ihm zu beweisen, dass sie kein Eisklotz war. Er grollte und widerstand erstaunlich lange, musste sich letztlich aber geschlagen geben. Wie sie ihn liebte, wenn er unter ihr lag und sich vergaß, während sie sich mit den Händen auf seiner breiten Brust abstützte und den Takt vorgab. Am folgenden Tag kaufte er eine DVD-Sammlung mit Roloff-Filmen, und sie sahen jeden Abend erst einen Film an und liebten sich dann auf dem Sofa. Roloff hatte glücklicherweise ein umfangreiches Werk hinterlassen.
»Fritz Roloff hat bestimmt ein Dutzend Filme mit Nives Marell gemacht. Sie war sein Star«, sagte Pfeffer, als sie zwischen Oleandern standen und sich umsahen.
Das Gebäude links von ihnen war einst ein Stall gewesen, nun diente es vermutlich als Garage, Abstellraum und Rumpelkammer. Das rechte Haus war früher wohl eine Kombination aus Scheune und angebautem Austragshäusl. Jetzt schien das Häusl als Gästehaus hergerichtet zu sein. In der Scheune, die durch mächtige Holztore verschlossen war, vermutete Pfeffer ein Schwimmbad. Neureiche tendierten dazu, in die Scheunen alter Höfe Pools einzubauen. Wahrscheinlich verbargen sich hinter den Holztoren bodentiefe Glasfenster. Vor den Toren war ein großes Rechteck flach in den Boden gegraben. Ein Sandhaufen, ein kleinerer Kieshaufen sowie säuberlich aufgestapelte Pflastersteine verrieten, dass hier eine neue Terrasse angelegt wurde. Neben den Pflastersteinen standen eine Rüttelmaschine sowie ein Stampfer.
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