»Das wusste ich wirklich nicht.« Pfeffer nahm einen Zug an seiner Zigarette.
»Frag einfach einen aus einer Hafenstadt.«
»Gelobt sei die Arbeitslosenversicherung.«
»Amen.«
»Hör mal, wir sollten uns wirklich keine Drogen reinpfeifen, wenn die Kinder …«
»Sollten wir wirklich nicht, Maxl. Hier.« Tim reichte Pfeffer den Joint. »Tun wir aber.«
»Genau.« Pfeffer inhalierte tief.
»Das letzte Mal ist außerdem schon über ein Jahr her.«
»Als du den ersten Tag aus dem Krankenhaus draußen warst? Stimmts? Da saßen wir im Garten unter dem großen Walnussbaum, Flo war bei deiner Mutter in Amsterdam und Cosmas mit seiner damaligen Flamme Natalie in der Türkei.«
»Hey, Max Pfeffer, du erinnerst dich so genau daran? Du bist also doch ein Romantiker.«
»Das täuscht. Ich kann nur perfekt so tun, als ob.«
»Alle mal herhören: Max Pfeffer, knallharter Superbulle, ist ein Romantiker!«
»Schnauze, oder ich verhafte dich wegen Drogenbesitz.«
»Wäre ja nicht das erste Mal.«
Die beiden lachten. So hatten sie sich vor über acht Jahren kennengelernt. Bulle verhaftete Kiffer – und verliebte sich dann in ihn.
Pfeffer wurde kurz ernst: »Ich bin Kriminalbeamter, nicht vergessen. Und ich möchte nicht, dass die Kinder abrutschen. Vor allem Cosmas.«
»Relax, Max Pfeffer. Schau mich an. Du weißt, dass ich mit vierzehn eine klassische Drogenkarriere gestartet und bis auf Heroin fast alles genommen habe. Und schau mich heute an!«
»Du liegst mit einem Kerl nackt auf dem Wohnzimmerboden und kiffst.«
»Stimmt. Aber ich habe einen guten Mann, der mich fast nie schlägt, zwei entzückende Kinder, ein Haus …«
»… und die Megaperls.«
Die beiden kugelten sich vor Lachen.
»Im Ernst, Maxl, meine Eltern haben damals auch gedacht, ich lande irgendwann auf dem Bahnhofsstrich. Damals habe ich es nicht verstanden. Ich wollte ja einfach nur leben. Aber ich habe trotz allem studiert und verdiene heute mehr als der beste Bahnhofsstricher.«
»Tausendmal mehr.«
»Millionenmal mehr.«
Pfeffer kicherte und Tim schwieg. Plötzlich riss sie ein unangenehmes Piepsen aus dem Gemeinsam-Atmen.
»Was ist denn das?«, fragte Tim.
»Was wohl? Mein Handy.«
»Hast du etwa Bereitschaft? Wir haben aber noch gar nicht gegessen, ich habe was vorbereitet.«
»Das könnten wir auch später noch essen. Wird außerdem sicher nicht die Arbeit sein. Positiv denken! Wir haben heute schon ein Skelett gefunden, draußen auf dem Anwesen der Nives Marell. Das wars heute mit den Leichen. Ist bestimmt einer von den Jungs.« Pfeffer stand auf und holte sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. Auf dem Display stand ›Arbeit‹. Er seufzte und nahm ab.
07
Werner Androsch ließ das Textbuch von »Kanakenbraut« auf den Schoß sinken und seufzte. Er hatte immer noch Textunsicherheiten, obwohl sie sich schon mit riesigen Schritten den Endproben näherten. Besonders im zweiten Akt kam er immer wieder raus. Er konnte und wollte sich einfach nicht darauf verlassen, dass Nives ihm als Souffleuse diente. Sie beherrschte alle Dialoge auswendig, flüsterte ihm die Stichworte zu, wenn er hing. Auch er hätte eigentlich den kompletten Text von »Kanakenbraut« auswendig können müssen, schließlich hatte er früher auf der Bühne und im Film den Türken gespielt.
Werner Androsch starrte aus dem Fenster. Die beleuchteten Türme der Giesinger Kirche zeichneten sich gegen den indigoblauen Nachthimmel ab. Der Schauspieler liebte diesen Blick, er hatte damals den Ausschlag gegeben, diese Wohnung am Roecklplatz zu kaufen. Bei Tag konnte man die ganzen Isarauen überblicken, bei Föhn rückten die Alpen greifbar nah heran.
Der Schauspieler trommelte nervös mit den Fingern der rechten Hand auf die Sesselarmlehne. Nicht hinsehen, sagte er sich, nicht hinsehen. Es funktionierte nicht. Natürlich musste er hinsehen. Die Autosuggestion, die ihm sein Therapeut, zu dem er längst nicht mehr ging, in jeder Sitzung aufs Neue empfohlen hatte, funktionierte einfach nicht. Werner Androsch sah hin – er sah zu dem naturweißen Vorhang, der links neben dem großen Panoramafenster in akkuraten Falten hing. Sein Blick wanderte hinauf zu der Vorgangstange und den Metallringen, die den Vorhang hielten.
Nicht, sagte er zu sich, nicht. Lass es nicht zu. Es ist alles in Ordnung. Alles bestens!
Doch nichts war in Ordnung. Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, dann über die pomadigen Haare. Er hielt es nicht mehr aus. Er sprang auf und lief hinaus auf den Balkon. Die kühle Nachtluft kroch in seine Poren. Er schloss kurz die Augen. Sofort wurde ihm schwindelig und er riss sie panisch wieder auf. Unentschlossen zupfte er ein paar verwelkte Blüten von der roten Geranie und entsorgte sie in der kleinen braunen Biotonne. Als er wieder in die Wohnung zurückging, vermied er jeden Blick hinüber zum Vorhang. Werner Androsch begab sich schnurstracks in die Küche. Eigentlich war es nur eine Kochnische, die schlauchartig vom Wohnzimmer abging. Aus der untersten Schublade, in der er sein Werkzeug aufbewahrte, holte er das Metermaß. Für einen Moment zögerte er noch, warf das Maßband spielerisch von einer Hand in die andere. Er stand mit dem Rücken zum Fenster. Doch es half nichts, der Drang war stärker. Werner Androsch drehte sich um, schob einen Stuhl vor das Fenster und stieg hinauf. Er legte das Maß an und überprüfte die Abstände zwischen den Metallringen, die den Vorhang hielten. Er korrigierte vorsichtig mit den Fingerspitzen den einen oder anderen Ring. Hatte er sich doch nicht geirrt: Hier und da hatte sich der Abstand um ein bis zwei Millimeter verändert. Dabei hatte er erst am Vormittag kontrolliert. Wie jeden Vormittag, denn bevor Werner Androsch das Haus verließ, maß er immer den exakten Sitz der Vorhangringe nach. Ebenso die Breite der Falten, die der Stoff warf, die er nun ebenfalls überprüfte und korrigierte.
Wie konnte es sein, dass der Vorhang jeden Abend ein paar Millimeter anders hing, als er ihn morgens arrangierte?
Er wusste ganz objektiv, dass es völlig egal sein konnte, ob der Vorhang millimetergenau in Falten gerafft war. Das hatte er auch seinem Therapeuten gegenüber zugeben müssen. Doch das Wissen half ihm nichts. Der Zwang kümmerte sich nicht darum, er war stärker. Immerhin gab es Tage, so wie diesen, da schaffte Werner es, eine Zeitlang zu Hause zu sein, Essen zu machen, fernzusehen, zu lesen, ohne dass er sofort seinem Tick nachgeben musste. Für Werner Androsch war das ein enormer Fortschritt. Die Sache mit dem Vorhang war freilich nur einer von zahllosen Ticks in seinem Leben.
Als das Telefon klingelte, fiel ihm vor Überraschung das Maßband aus der Hand. Er starrte auf den Apparat. Sollte er rangehen? Er entschied sich dagegen. Es könnte allerdings Sabine sein. Der Anruf, den er sehnlich erwartete. Er stieg letztlich vom Stuhl und nahm das Gespräch an.
»Herzlichen Glückwunsch!«, zwitscherte eine fröhliche Frauenstimme. »Sie haben gewonnen!«
»Äh, wie?«, stammelte Werner Androsch irritiert. »Gewonnen?«
Die Frauenstimme quasselte einfach weiter, ohne auf seinen Zwischenruf einzugehen. Erst als sie sagte »Wenn Sie Ihren Gewinn abrufen wollen, drücken Sie jetzt bitte die Eins auf Ihrer Telefontastatur«, dämmerte es Werner und er legte wütend auf. Sofort klingelte es erneut. Diesmal ließ er es so lange läuten, bis der Anrufbeantworter ansprang. Wenn es wirklich Sabine sein sollte, würde sie ihm auf Band sprechen.
»Werner, bist du zu Hause?«, fragte leise eine Frauenstimme. »Wenn ja, geh bitte ran. Es ist wichtig.«
Pause.
»Es ist wegen Sepp«, sagte die Frau.
»Ja, ich bin da«, meldete sich der Schauspieler schließlich doch und stoppte den Anrufbeantworter. Er hatte die Stimme nicht wirklich erkannt, doch sie erinnerte ihn an eine Bekannte aus seiner Vergangenheit.
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