»Hallo, ich bins, Traudl.«
Werner Androsch sortierte gedanklich in Windeseile sein Adressbuch. Eine Traudl kam darin nicht vor. Zumindest nicht beim Schnellscan. »Traudl?«
»Ja. Weißt schon. Traudl Sonnenbichl.«
»Traudl«, sagte Werner überrascht. Er erinnerte sich an die Schneiderin, die früher, ganz, ganz früher zu ihrer Clique gehört hatte. Schlagartig erschien das Bild einer aufgedonnerten Landpomeranze mit einem weißblonden Storchennest auf dem Kopf vor seinem inneren Auge, die die gewagtesten Minikleider trug und in Schwabinger Nachtclubs mit Nives Marell oder Fritz Roloff oder auch mit ihm auf den Tischen tanzte. Das war über dreißig Jahre her. Wie sie wohl nun aussah? Nun, das hatte er bereits gehört, arbeitete sie ebenfalls am Residenztheater, allerdings im Gegensatz zu ihm in Festanstellung. Noch war er ihr nie bei den Proben begegnet.
»Erinnerst dich noch ein wenig an mich, gell, Werner?« Traudl Sonnenbichl flüsterte, ganz entgegen ihrer früheren Angewohnheit. Werner hatte sie als laut und lärmend in Erinnerung. »Grad hat mich der Erwin von der Nachtpforte angerufen. Sie haben den Sepp gefunden.«
»Sepp? Sepp Bloch? Wie gefunden?«
»Tot.«
»Oh.« Werner Androsch knete sich die Unterlippe. Traudl Sonnenbichl würde von ihm keine Betroffenheitsshow erwarten. »War ja eh nur eine Frage der Zeit, bis er sich totsäuft …«
»Er steckte mit dem Kopf im Färbetrog, drunten in der Färberei. Eine Praktikantin von der Oper hat ihn gefunden.«
»Warum rufst du mich deshalb an?«
»Ich dachte, es würde dich interessieren.«
»Alles, was mit Joseph Bloch zu tun hat, ist für mich absolut uninteressant. Auch sein Tod.« Werner Androsch fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Entschuldige, Traudl, aber … mir ist der Sepp egal … Das mag für dich hart klingen.«
»Nein, nein, Werner, klingt es nicht. Er war mir auch … egal …«
»Du hast ihn gehasst, Traudl. Das wusste jeder.«
»Ja, du aber auch. Nun ist er tot.«
»Dann freu dich doch.«
Traudl Sonnenbichl lachte trocken. »Du bist wie immer, Werner. Bloß nichts und niemanden an dich ranlassen.« Sie stockte. »Hast du … hast du vielleicht Lust, dich noch auf ein Bier mit mir zu treffen? Ich gehe gleich noch ins Trinkkisterl. Weißt, wo das ist?«
Werner wusste das nur zu gut. Er sah die speckige, heruntergekommene Eckkneipe in der Frauenlobstraße vor sich, sah die talgigen, verbrauchten Gesichter der Im-Leben-zu-kurz-Gekommenen, die das Stammpublikum bildeten, hörte die schlechte Schlagermusik, die aus alten Boxen schepperte und roch den Dunst aus Rauch und Alkohol. Er war zu oft im Trinkkisterl gewesen. Wenn das nun auch Traudls Stammkneipe war, warum hatte er sie dort nie gesehen? Nun beantwortete er ihre Frage mit einer Lüge. »Nein, kenn ich nicht.«
»Nicht? Na, ich geh da auch fast nie hin. Mir war nur grad so danach. Meist geh ich zu Biggi ins Walther-Stüberl in der Waltherstraße. Da können wir auch hin, wenn du willst.«
»Nein, Traudl, danke, ich will nicht.«
»Oh, na gut, dann geh ich eben allein. Aber erst werde ich noch den Sebastian anrufen.«
»Wen?«
»Meinen neuen Chef. Du kennst ihn, er übernahm immer die Anproben, wenn Sepp nicht da war. Sebastian Oßwald, unser Gewandmeister. Nives habe ich bisher noch nicht erreicht.«
08
»Kann mal bitte jemand den Toten abdecken?«, sagte Max Pfeffer barsch und deutete auf den Leichnam, dessen Gesichtszüge aussahen, als wären sie von einem modernen Künstler in Ätztechnik gestaltet worden. Pfeffer schmeckte noch die Mischung aus Cannabis und Tim auf seinen Lippen und wollte sich das nicht verderben lassen. Nach dem Anruf, der ihn hierherbestellt hatte, hatte sich Pfeffer nur schnell ein wenig Deo und ein paar Spritzer seines ebenso sündhaft teuren wie guten Lieblingsduftes Blenheim Bouquet gegönnt. Das musste reichen, um Frische vorzutäuschen.
Ein Mann von der Spurensicherung breitete eine weiße Plastikplane über den Körper, der in dem kleinen Raum neben einer riesigen doppelwannigen Edelstahlspüle lag. Pfeffer sah aus dem Fenster. Die Färberei des Residenztheaters befand sich ebenerdig in einem Seitentrakt des klassizistischen Gebäudes. Gegenüber lag der Marstall in abendlicher Festbeleuchtung.
Eine blasse kleine Frau stand an einen der beiden anderen Färbetröge gelehnt, die den kleinen Raum neben einem ramponierten Arbeitstisch beherrschten.
»Sie haben die Leiche gefunden?«, fragte Pfeffer.
Die blasse Frau nickte langsam. »Ich bin Praktikantin, verstehen Sie? Ich wusste nicht, dass das so wahnsinnig ätzt, dass man davon stirbt.« Sie schluchzte auf.
»Schsch«, machte Pfeffer. »Noch wissen wir nicht, woran er gestorben ist. Vorerst interessiert mich, warum Sie noch so spät abends hier in der Arbeit sind?«
»Ich sollte doch diesen Stoff rot färben«, sprudelte es aus ihr heraus. »Und ich wollte ihn ursprünglich über Nacht im Färbebad lassen, aber dann habe ich mir doch Sorgen gemacht, weil ich noch nie gefärbt habe und der Stoff schon seit sechs Stunden im Bad war, und da habe ich die Kostümassistentin angerufen und die hat mir gesagt, dass das reicht und ich den Stoff sofort rausholen und aufhängen soll, und da bin ich dann hergefahren mit meinem Fahrrad, und da habe ich mich schon gewundert, dass Licht an ist, denn ich war mir sicher, dass ich das ausgemacht habe, als ich gegangen bin, und dann lag der Mann mit dem Kopf im Waschbecken, in dem ich meinen Stoff … Dass es der Herr Bloch ist, habe ich nicht gesehen. Wirklich nicht.« Sie schluckte und begann zu weinen.
»Schon gut, Frau …«, Pfeffer wusste nicht, ob er den Namen der Blassen gehört hatte, wusste aber, dass die Kollegen die Aussage bereits protokolliert hatten. »Am besten, Sie gehen jetzt nach draußen und schnappen ein wenig frische Luft. Oder Sie gehen gleich heim.«
Die Blasse sah Pfeffer mit großen Augen an und entfernte sich dann.
»Schöner Chemikaliencocktail«, sagte Doktor Gerda Pettenkofer gelassen zu Max Pfeffer und deutete auf die rote Brühe, die in der einen Spülenhälfte stand. »Hier, die schreiben auf ihre Packungen, dass das Zeug ätzt. Aber hallo.« Sie hielt eine Blechdose hoch, die Färbepigmente für Stoffe enthielt. »Was genau drin ist, schreiben sie allerdings nicht. Aber so, wie der Tote aussieht, braucht man das auch nicht wissen. Kein Wunder, dass der Mann hier nicht mehr den gesündesten Teint hat.«
»Wie war die Auffindesituation?«, fragte Pfeffer.
»Er steckte mit dem Oberkörper in dem Färbetrog. Hier, Kopf, Schultern und Oberkörper bis fast zu den Brustwarzen waren im Farbbad. Die Arme hingen mit dem Rest des Körpers über den Rand nach außen. Der Mann muss also vornüber in den Trog gefallen sein. Ohne sich dabei mit den Händen abzufangen.« Die Rechtsmedizinerin stemmte die Arme in die Seiten. »Wenn du mich fragst, ist das schon ein wenig ungewöhnlich.«
»Vielleicht ist ihm bei den Chemiedämpfen hier schlecht geworden, und er ist deshalb …«, überlegte Pfeffer laut.
»Nein, Maxl, ist er nicht.« Gerda Pettenkofer schwieg einen Moment und legte den Zeigefinger auf den Mund, damit auch Pfeffer nichts sagte. »Hörst du? Der Abzug läuft.« Sie deutete zur Decke, dort hingen wie futuristische Trockenhauben zwei Plexiglasglocken an langen Metallschläuchen.
»Eben wegen der Chemikalien muss immer der Abzug laufen, damit niemand ohnmächtig wird oder sich die Atemwege verätzt«, mischte sich da ein großer blonder Mann ein, der sich die ganze Zeit ein wenig bleich neben der Eingangstür aufgehalten hatte. »Normalerweise sind die Fenster beim Färben zusätzlich geöffnet oder wie jetzt gekippt.«
»Danke, und Sie sind?«, fragte Pfeffer.
»Sebastian Oßwald.« Der Mann schüttelte ihm die Hand. Er mochte Mitte dreißig sein. »Ich bin Gewandmeister hier am Resi, also am Residenztheater. Sepp, Joseph Bloch war mein Kollege. Man hat mich verständigt, dass ich kommen soll. Ich bin nun für die Herrenwerkstatt, also die Herrenkostümabteilung verantwortlich.«
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