»Ich war im Garten. Ich brauchte dringend frische Luft.«
»Komisch, dass ich Sie da nicht gesehen habe, Miss. Denn im Garten habe ich auch gesucht«, ergänzte Sarah skeptisch.
»Ich wollte nicht gefunden werden. So ist das! Und nun hilf mir flink, meine Haare wieder in Ordnung zu bekommen, damit ich hinuntergehen kann.«
Aber zuerst muss ich zur Ruhe kommen, sagte sie zu sich selbst. Der Schock, von Rafael hintergangen worden zu sein, saß sehr tief. Doch wenn er glaubte, sie würde jetzt vor Liebeskummer dahinsiechen, da täuschte er sich. Sie drückte den Rücken durch und sah in ihr Spiegelbild.
Kein Mann wird mich jemals wieder so beherrschen. Nie wieder werde ich mich verlieben! Ja, ich werde jetzt mein Leben selbst in die Hand nehmen. Die Entscheidung ist gefallen!
Nachdem Sarah ihr geholfen hatte sich herzurichten, stand sie auf und verließ ihr Zimmer, um nach unten zu ihrer Mutter und ihrem Bruder zu gehen. Sie hörte schon die verärgerte Stimme ihrer Mutter und Philips beschwichtigende Worte. Da die Tür ein Stück geöffnet war, konnte sie beide sehen. Keiner bemerkte sie.
»Mutter, lass ihr Zeit. Sie muss sich erst einmal beruhigen. Diese Eröffnung war doch ein herber Schlag für uns. Vielleicht hättest du diesen Eheplan zuerst mit mir besprechen sollen, anstatt sie vor vollendete Tatsachen zu stellen.«
Emmy wartete im Verborgenen und horchte, was ihre Mutter darauf entgegnen würde.
»Mit dir besprechen! Das wäre ja noch schöner! Bis jetzt habe ich immer noch das Sagen. Es gibt keinen anderen Ausweg, sie muss heiraten. Unser Vermögen zu erhalten ist unsere oberste Pflicht – und steht über jedem persönlichen Gefühl.«
»Selbstverständlich kenne ich deine Haltung. Außerdem bist du natürlich unsere Mutter, aber es ist meine Aufgabe, für euch zu sorgen. Ich weiß, dass ich dies bis jetzt versäumt habe. Doch nun möchte ich meine ganze Kraft dafür verwenden, Standhurst nicht zu verlieren und hoffentlich wieder ertragreich zu machen. Und deshalb bitte ich dich, nichts mehr allein zu entscheiden, sondern nur noch mit mir zusammen.«
Aufrecht und entschlossen stand Philip vor dem großen Kamin. Diese Haltung hatte er noch nie gezeigt, dachte Lady Northland verwundert.
»Also gut, wir werden sehen, wie lange du für uns sorgst.«
Sie war anscheinend nicht überzeugt.
Verletzt wandte Philip sich ab. Sollte sie doch denken, was sie wollte. Er würde sich fortan auf diese Aufgabe konzentrieren. Fast freute er sich darauf. Bisher bestand sein Leben nur aus Trinken, Spielen und Balletttänzerinnen. Er hatte schon seit Längerem bemerkt, dass ihn dieses Leben nicht mehr ausfüllte, hatte es sich nur nicht eingestehen wollen. Nun wird er seiner Mutter eben beweisen, welche Kräfte in ihm schlummern und zu was er fähig ist.
Emmy atmete tief durch. Geräuschvoll öffnete sie die Tür ganz und betrat die Bibliothek. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihr Lauschen bemerkt werden könnte.
»Kind, wo warst du nur? Wie kannst du einfach verschwinden, wenn wir hier wichtige Dinge zu besprechen haben?«
Emmy hob den Kopf und sah ihr geradewegs in die Augen.
»Verzeih, Mutter, du kannst mir wohl kaum verübeln, für kurze Zeit allein sein zu wollen. Die Zukunft der Familie hast du, wie du zugeben musst, fast allein auf meine Schultern gelegt.«
Lady Northland sah sie erstaunt an.
»Wie redest du denn mit mir?«
Emmy überging die Bemerkung.
»Ich musste erst meine Gedanken ordnen und begreifen. Und nun habe ich eine Entscheidung getroffen. Wohlgemerkt, ich habe entschieden und nicht du.«
Sie sah von ihrer Mutter zu Philip. Der hielt ihrem Blick gebannt stand. Auch er kannte seine Schwester so nicht. Bisher hatte er angenommen, sie würde das Leben genießen, ohne viel nachzudenken. Hier zeigte sich aber eine Emmy, die plötzlich gereift zu sein schien. Sie musste diese Reife schon in sich getragen haben, ohne dass er es bemerkt hatte. Wieder wurde ihm deutlich, wie gedankenlos er als Familienoberhaupt gelebt hatte. War seine Mutter deshalb so hart geworden? Hatte sich sein Vater ähnlich gedankenlos seiner Frau gegenüber verhalten?
Zu Emmy gewandt sagte er: »Dir steht alles Recht der Welt zu, deine eigenen Entscheidungen zu treffen und dir die dafür notwendige Zeit zu nehmen. Du sagst, du hast dich entschieden? Willst du es uns jetzt mitteilen oder brauchst du noch Zeit …?«
»Wir haben keine Zeit!«, unterbrach ihn seine Mutter verärgert.
»Wenn du uns früher informiert hättest, hätten wir mehr Zeit!«, fuhr Philip seine Mutter an. »Wieso denkst du immer, du musst alles allein entscheiden? Wir sind keine Kleinkinder mehr.«
»Und wer hat sein Leben bisher genossen, ohne nachzudenken?«
Lady Northland sah ihn herausfordernd an.
»Ich bin mir meiner Schuld voll bewusst, aber du nicht deiner«, entgegnete Philip scharf.
»Hört endlich auf!«, schrie Emmy beide an.
Erschrocken blickten sie zu ihr. Kreidebleich stand sie in der Tür und sah ihre Mutter wütend an.
»Emmy!« Lady Northland schnappte nach Luft. »Was ist das für eine Art, mit seiner Mutter zu sprechen! Ich glaube doch, ich habe dir ein besseres Benehmen beigebracht.«
Emmy glaubte Verachtung in ihrem Blick zu erkennen. Plötzlich überkam sie eine große Traurigkeit. Wie oft hatte sie sich gewünscht, ihre Mutter würde sie in den Arm nehmen oder einfach nur verständnisvoll anlächeln? Niemals hatte sie sich ihr anvertrauen oder sich mit ihr über etwas freuen können. Augenblicklich wusste sie, warum. Ihre Mutter liebte sie nicht. Diese Erkenntnis ließ etwas in ihr zersplittern. Sie sehnte sich so sehr nach Liebe. Doch die würde sie hier nicht bekommen. Auch nicht von ihrem Bruder. Aber Philip hatte sie wenigstens gern.
Was hatte sie ihrer Mutter getan, dass diese sie nicht lieben konnte?
»Also, was ist? Hast du uns etwas Wichtiges zu sagen?«, forderte Lady Northland. Ungeduldig wartete sie auf eine Antwort.
»Ich werde Lord Malkham heiraten, aber nicht für dich, Mutter, sondern für mich. Weniger geliebt als hier, in diesem Haus, kann ich von meinem zukünftigen Ehemann auch nicht werden.«
Ihre Mutter sah sie streng an. »Es geht nicht um Liebe oder sonstige Träumereien, sondern um den Erhalt des Erbes. Ich freue mich aber, dass du Vernunft angenommen hast und endlich begreifst, um was es hier geht.«
»Vielen Dank, Mutter, für deine Belehrung. Ich weiß sehr genau, um was es nicht geht, nämlich mein Glück. Da ich durch die Fehlinvestitionen meines Vaters über keine Mitgift verfüge, ist meine Chance, einen Mann zu finden gleich null. Daher habe ich entschieden, dass selbst eine arrangierte Ehe besser ist, als hierzubleiben. Ich werde also deinem Wunsch gemäß Lord Malkham heiraten. Eine Bedingung stelle ich allerdings: Bis zu unserer Hochzeit möchte ich ihn nicht sehen. Ich werde morgen abreisen und meine liebe Freundin Joan besuchen. Den Tag der Vermählung könnt ihr für den 20. Mai ansetzen, meinen Geburtstag. Ich werde pünktlich zum Termin erscheinen.«
Ehe Lady Northland oder Philip ihre Stimmen erheben konnten, hatte Emmy auf dem Absatz kehrtgemacht und war aus dem Zimmer verschwunden.
Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, blieb Emmy kurz stehen. Jetzt gestattete sie sich, am ganzen Leib zu zittern. Tränen rannen ihr erneut über die Wangen. Kurzerhand schürzte sie ihre Abendgarderobe und eilte die Treppen hinauf zu ihrem Zimmer. Dort konnte sie endlich ihre Tränen fließen lassen und ihre tiefe Enttäuschung über Rafael und über ihre ungewisse Zukunft herausweinen.
Etwas später am Abend klopfte Johanna an die Tür, leise kam sie ins Zimmer und fragte Emmy, ob sie nicht hinuntergehen wolle, um etwas zu essen. Doch sie lehnte ab.
Allein die Vorstellung, eine Speise zu sich zu nehmen, gar im Beisein ihrer Mutter, bereitete Emmy Übelkeit. Sie bat Johanna, ihr beim Ausziehen des kostbaren, aber inzwischen zerknitterten Kleides zu helfen.
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