Emmy schaute ihre Kinderfrau mit großen, unschuldigen Augen an.
»Den Blick können Sie sich bei mir sparen. Sie vergessen, ich kenne Sie schon, seit Sie auf der Welt sind.«
»Ach, Johanna, das stimmt, du kennst mich! Kannst du mir nicht helfen, die Liebe meines Lebens zu bekommen?«
»Die Liebe meines Lebens! Pah! Der junge Mann hat kein Geld und noch nichts vorzuweisen. Sie bilden sich da etwas ein, was einfach nicht da ist. Ich habe Ihnen schon oft genug gesagt, Sie sollen sich Ihre romantischen Flausen aus dem Kopf schlagen. Und nun setzen Sie sich vor den Spiegel, dann frisiere ich Ihnen endlich die Haare und danach übergebe ich Sie Ihrer Mutter. Die kann sich dann mit Ihnen herumärgern.«
Um ihre Worte abzumildern, gab sie Emmy einen Kuss auf die Stirn und sah sie liebevoll an: »Sie wissen, dass ich Sie liebe, kleine Miss?«
»Aber natürlich weiß ich das.« Sie nahm Johanna in die Arme.
Die alte Kinderfrau schob sie sanft von sich. In ihren Augen schimmerte es verdächtig.
»Jetzt aber Schluss mit dieser Gefühlsduselei!«
Verschämt wischte sie sich eine Träne weg. Wie groß die kleine Lady geworden war! Sie war eine erwachsene Frau geworden, die von vielen Männern der Gesellschaft begehrt wurde. Da spielte nicht nur die lange Ahnengalerie der Familie Northland eine Rolle, sondern auch ihr Aussehen und ihre freundliche Art.
Noch gut konnte sie sich an den Tag der Geburt erinnern. Die Kleine war von Anbeginn zart und schön. Sie hatte sie sofort in ihr Herz geschlossen. Leider ging es der Mutter, Lady Northland, nicht so. Diese hoffte, nachdem sie einen Sohn auf die Welt gebracht hatte, ihren Pflichten somit nachgekommen zu sein und fortan von ihrem Mann nicht mehr belästigt zu werden. Leider forderte ihr Gemahl weiterhin von ihr, sich für die Sicherung der Nachkommenschaft einzusetzen. Die zweite Schwangerschaft erwies sich dann jedoch als so belastend für den gesamten Haushalt, dass Lord Northland kaum noch zu Hause weilte und davon absah, weiterhin seiner Frau beizuwohnen. Glücklicherweise ist aus der ersten Schwangerschaft ein Sohn hervorgegangen, auf dem seine ganze Hoffnung ruhte.
Dies bedeutete Verantwortung und Pflicht und gestaltete sich für einen kleinen Jungen nicht immer einfach. Er stand unter ständiger Kontrolle des Vaters und seines Erziehers. Für eine Tochter war es unter diesen Vorzeichen noch um ein Vielfaches schwieriger: Sie musste mit einem Vater aufwachsen, der sich ausschließlich auf seinen Sohn konzentrierte, und einer Mutter, die aus mangelndem Interesse beide Kinder lieblos behandelte. Lord Northland war kein schlechter Vater, er wusste nur einfach nichts mit einer Tochter anzufangen. Keine guten Voraussetzungen für ein glückliches Leben.
Doch Johanna schenkte dem Mädchen ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit, und so vermisste Emmy fast nichts in ihrem Leben. Wenn sie Kummer hatte oder sich über etwas besonders freute, vertraute sie es sofort Johanna an. Ihre Eltern sah sie bis zu ihrem 17. Lebensjahr nur selten. Die Verantwortung für ihre Erziehung oblag Johanna und einer Gouvernante. Seit diesem Jahr jedoch hatte sich vieles verändert. Emmy war der Gesellschaft vorgestellt worden und sollte nun alsbald verheiratet werden.
Johanna sah in den Spiegel und kontrollierte die Wirkung ihrer Arbeit. So alt sie auch war, so geschickt arbeiteten ihre Hände. Im Nu hatte sie Emmys Haar gebändigt, das sie heute locker nach oben gesteckt hatte. Nur vereinzelt durften kleine Strähnen, zu zarten Locken gedreht, nach unten fallen. Emmys Hals wirkte dadurch noch schlanker und graziler. Eine Rose, seitlich im Haar befestigt, komplettierte Johannas Arbeit. Sehr zufrieden mit dem Ergebnis trieb sie Emmy zur Eile an.
»So, nun noch das Kleid hier anziehen, und Sie sehen einfach zauberhaft aus.«
Emmy betrachtete sich im Spiegel. Ja, das Kleid war traumhaft. Johannas Auswahl bewies wie schon so oft ihren guten Geschmack. Trotzdem seufzte Emmy. Debütantinnen war es leider nicht gestattet, farbige Kleider zu tragen. Ein zartes Gelb vielleicht oder ein helles Rosa wurden noch akzeptiert. Ihr heutiges Kleid aus cremefarbener Seide gab einen wunderbaren Kontrast zu ihren dunkelblonden Haaren. Eng schmiegte es sich an ihre Figur. Der Ausschnitt bedeckte gerade so ihren Busen.
Seltsam, dachte sie beim Blick in den Spiegel, ein farbiges Kleid darf ich nicht tragen, meinen Busen fast entblößen aber schon.
Die kleine Rose, die ihr Haar schmückte, passte wunderbar zu den Rosen am Saum ihres Kleides. Emmy drehte sich, tief in Gedanken versunken, vor dem Spiegel hin und her. Ob Rafael von ihrem Kleid auch begeistert sein würde?
Johanna fragte sich skeptisch, was in diesem Kind nur wieder vorging, und ermahnte Emmy noch einmal: »Und denken Sie daran: keine Dummheiten!«
»Ich mache bestimmt nichts Unüberlegtes.«
Ihre Zofe glaubte ihr kein Wort. Glücklich lächelnd nahm Emmy ihr Retikül, das Johanna ihr reichte, und ging frohgestimmt zur Treppe.
Bald werde ich ihn wiedersehen. Ihre Gedanken hüpften vor Glück durcheinander. Was wird er sagen, wenn er mich in diesem Kleid mit seiner Rose im Haar sieht? Wird er mich schön finden?
»Emmy!«
Die schrille Stimme ihrer Mutter durchbrach ihre romantischen Gedanken.
»Was stehst du da oben wie angewurzelt? Komm sofort zu mir!«
Lady Northland blickte verärgert nach oben. In ihrer großen Abendrobe sah sie immer noch sehr attraktiv aus. Trotz ihres Alters hatte sie ihre schlanke Figur behalten, die durch ihre gute Wahl der Kleider hervorgehoben wurde. Die nun grauen Haare waren zu einer eleganten Frisur aufgesteckt und mit einem großen Diadem komplettiert worden. An den Händen trug sie lange schwarze Abendhandschuhe.
Emmy wurde bewusst, dass sie tatsächlich vor der Treppe stehen geblieben war. Rasch ging sie die letzten Stufen hinunter.
»Entschuldige bitte, ich war ganz in Gedanken.«
Nervös sah sie zur ungeduldig Wartenden, als der Butler erschien und Lady Northland sich ihm zuwandte, woraufhin sie ihre Tochter streng ermahnte, hier auf sie zu warten, und mit Bradley die Halle verließ.
Warum konnte ihre Mutter nicht einmal nett zu ihr sein? Immer kritisierte sie nur an ihr herum. Nichts konnte man ihr recht machen. Seit dem Tod des Vaters war es noch schlimmer geworden. Ihr Bruder Philip hatte es gut. Er ging seiner Mutter einfach aus dem Weg und konnte es sehr viel einfacher, seitdem er sich eine kleine Wohnung gemietet hatte und dort übernachtete. So kam er nur, wenn Lady Northland ihn zu sich zitierte.
Meistens lebte sie jedoch mit ihrer Mutter allein. Jeden Nachmittag empfing Lady Northland Besucher, ihre Tochter musste ihr dabei selbstverständlich Gesellschaft leisten. Manchmal kam sich Emmy wie eine Zuchtstute vor, wenn sie von den Besucherinnen aufmerksam studiert wurde. Jede Bewegung wurde genau registriert. Teilte sie den Tee aus, wurde darauf geachtet, wie elegant ihre Bewegungen waren, mit welcher Grazie sie die Tasse reichte. Sie empfand es als unglaublich anstrengend, sich ständig kontrollieren zu müssen. Umgekehrt konnten die Nachmittage auch angefüllt sein mit Besuchen bei wichtigen Damen aus der Gesellschaft. Diese Besuche waren fast immer sterbenslangweilig, da man von Debütantinnen erwartete, dass sie still und gerade dasaßen und sich auf keinen Fall in ein Gespräch einmischten. Immer schön lächeln! Leider ließen sich diese Besuche nicht umgehen, um erfolgreich zu debütieren. Es ging immer um Kontakte und Verbindungen, Einladungen zu den wichtigsten Bällen oder Soireen. Für die jungen Debütantinnen musste daher ihr ganzes Sinnen, Trachten und Streben daraufhin abzielen, sich möglichst gut zu präsentieren. Manchmal wäre Emmy am liebsten davongelaufen.
Gott sei Dank gab es noch die kleinen Tanzabende. Dort ging es etwas lockerer zu. Emmy traf hier ihre Freundinnen und konnte sich mit ihnen austauschen. Sie unterhielten sich mit Spielen, zu trinken gab es Limonade und zu essen köstliche Süßspeisen. Alles fiel etwas einfacher aus, weshalb zu solchen Veranstaltungen eher junge Leute kamen, die noch nicht sehr lange in die Gesellschaft eingeführt waren. Für Emmy stellten diese Abende eine Erholung dar, verglichen mit den großen Gesellschaften, auf denen jeder ihrer Schritte unter strengster Aufsicht und Kontrolle stand.
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