Will man wissen, was »jeweils der Fall ist und was dahintersteckt« (N. Luhmann), sind freilich spezifische Fähigkeiten erforderlich, die in langwierigen (Aus-)Bildungs- und Selbstreflexionsprozessen erworben werden. Explizites, in Lehrbüchern vermittelbares Wissen stellt dabei nur einen kleinen Teil dar. Erforderlich sind ausreichendes Wissen über Theoriekonzepte und -modelle unterschiedlicher Reichweite sowie ein spezifisches Kontextwissen im Sinne von Feldkompetenz, das in der Lage ist, typische Problemkonstellationen in zwischenmenschlichen und institutionellen Zusammenhängen zu erkennen. Darüber hinaus braucht es auf der Performanzebene ein hinreichendes Steuerungswissen , z. B. Kenntnisse des dynamischen Potenzials unterschiedlicher Settings in Beratungsprozessen, Fähigkeiten zur Herstellung eines optimalen Arbeitsabstandes (also einer optimalen Balance von Nähe und Distanz), Verständnis für Prozesse, ausreichend Geduld dafür, (vermeintlich) schnellen Lösungsideen zu widerstehen, Fähigkeiten zum Affekt-Containment (d. h. die Souveränität, nicht jede schwierige Affektlage gleich selbst auflösen zu wollen), Fähigkeiten, die eigene Autonomie in einem dynamischen, komplexen Prozess bewahren zu können, Kenntnisse der systemischen Gesprächsführung, Strukturierungsfähigkeit etc. Personales Wissen über die eigene Motivation zur therapeutischen Arbeit, Muster der Reaktion auf unterschiedliche kommunikative Angebote, Klarheit über die eigene persönliche Standortbestimmung, die Fähigkeit, sich abzugrenzen und Nein zu sagen, usw. gehören zu den selbstreflexiven Kompetenzen , die durch Selbsterfahrung erworben und im Kontext von Supervision und Intervision gepflegt und erweitert werden können.
Dieses Verständnis von Professionalismus, zu dem dieses Buch einen Beitrag leisten soll, kontrastiert mit Versuchen, Psychotherapie analog zu dem – auf seinem Gebiet in vielerlei Hinsicht erfolgreichen – medizinischen Paradigma der Behandlung von Krankheiten zu strukturieren. Auf die Problematik einer Medikalisierung von Sinnfragen soll daher nachfolgend ausführlicher eingegangen werden.
1.1.2Medikalisierung versus psychosoziale Perspektive
Jürgen Kriz
Unter Medikalisierung wird die möglichst weitgehende Erklärung für Normabweichungen im psychischen und interpersonellen Bereich durch biosomatische Vorgänge verstanden. Es geht also um die Reduktion der hochkomplexen Wechselwirkungen zwischen somatischen, psychischen, interpersonellen und kulturellen Prozessen auf das Paradigma einer rein somatisch verstandenen Schulmedizin. Diese Sichtweise dient wiederum als Begründung dafür, daraus entsprechende medizinische Interventionen (Medikamente, Operationen) abzuleiten – oder zumindest medizinanaloge Behandlungen dieser »Krankheiten« zu fordern (d. h. störungsspezifische Interventionen, deren Effizienz nach dem Modell evidenzbasierter Medizin [EbM] »bewiesen« wurde).
Keineswegs das historisch erste, aber dennoch ein besonders bemerkenswertes Beispiel für Medikalisierung ist die Diagnose »Drapetomanie«. Mit dieser »Geisteskrankheit« wurden 1851 von S. A. Cartwright auf dem Jahrestreffen der Louisiana Medical Association die häufigen Versuche einiger schwarzer Sklaven, von den Baumwollfeldern zu fliehen, begründet (vgl. Gould 2007). An diesem Beispiel lässt sich nämlich die Problematik der Medikalisierung entfalten: Es geht bei der »Drapetomanie« ja nicht um einen historischen Missgriff in der Ursachenzuschreibung, der aus heutiger Sicht – nach Überwindung der (formalen) Sklaverei – bestenfalls ein überlegenes Schmunzeln hervorrufen sollte. Vielmehr wäre es interessant zu überlegen, ob nicht gerade in heutiger Zeit die Drapetomanie in die Diagnosesysteme DSM oder ICD aufgenommen werden müsste, wenn es denn noch Sklaven gäbe. Und ob nicht vor allem die modernen bildgebenden Verfahren und die Fortschritte der Neurobiologie die Berechtigung für eine störungsspezifische Therapie der Drapetomanie, entsprechende RCT-Studien und einen florierenden Pharmamarkt für Medikamente gegen diese Krankheit liefern würden.
Man muss sich nur einen Sklaven vorstellen, der länger geplant hat, unter Lebensgefahr von seiner Plantage zu fliehen, und dessen Flucht unmittelbar bevorsteht: Er wird körperliche Symptome zeigen – z. B. Zittern, Schweißausbruch etc. – und sich vermutlich kognitiv mit anderen Dingen beschäftigen als jene Sklaven, die nicht unter Drapetomanie leiden, was derzeit oder bei weiterem Fortschritt der bildgebenden Verfahren auch objektiv nachgewiesen werden könnte. Kurz: Wir dürfen wohl sicher sein, dass die Drapetomanie aufgrund der Fortschritte in störungsspezifischer Diagnostik und Therapie, in neurobiologischer Forschung etc. heute noch weit besser und wissenschaftlich objektiver nachgewiesen werden könnte als 1851. Man darf ebenso sicher sein, dass für einen solchen Markt dann auch Pharmaka entwickelt werden würden, welche ebenso objektiv nachweislich die Drapetomanie bei den Betroffenen verringern könnten. In der Presse könnte man dann womöglich lesen, die Ursache für Drapetomanie sei im Gehirn und/oder als Mangel an XYZ nachgewiesen (wobei dann für XYZ der von den Pharmakonzernen bereitgestellte, in RCT-Studien als wirksam nachgewiesene Stoff einzusetzen ist).
Dieses extensiv entfaltete Beispiel macht deutlich, dass das Problem der Medikalisierung auf vielen miteinander verwobenen Ebenen anzusiedeln ist. »Somatische versus psychosoziale Ursachen?« wäre in jedem Fall eine zu reduktionistische Fragestellung. Denn natürlich haben alle psychischen, interpersonellen und kulturellen Vorgänge auch irgendwelche somatischen Korrelate. Bei entsprechendem Interesse an bestimmten Kategorien in den Verhaltens-, Denk-, Empfindungs- oder auch Wahrnehmungsprozessen wird man zwischen diesen Kategorien und entsprechenden somatischen Korrelaten auch differenzialdiagnostische und störungsspezifische Zusammenhänge erforschen und mit den üblichen Designs »nachweisen« können. Ein moderneres Beispiel dafür ist die »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)«, die nachgewiesenermaßen mit Methylphenidat (Medikamentennamen: Ritalin®, Concerta®, Medikinet®, Equasym®) behandelt werden kann. Doch wenn die Verschreibung von Methylphenidat laut Barmer-GEK-Arzneimittelreport in den 15 Jahren zwischen 1993 und 2007 um mehr als das 100-Fache gestiegen ist (vgl. Gebhardt et al. 2008) – bzw. in sogenannten Tagesdosierungen von rund 400 000 im Jahr 1991 auf 52,3 Mio. im Jahr 2008 (Hulpke-Wette u. Paul 2010) –, stellt sich schon die Frage nach den Ursachen dieser plötzlichen »Epidemie«. Dabei gibt es heute für ADHS wie schon 1851 für Drapetomanie noch nicht einmal biosomatisch abgesicherte Indikatoren, vielmehr wird mit Fragebogen-Items diagnostiziert, die der subjektiven Beurteilung von Eltern oder Lehrern unterliegen. Gleichwohl wirken auch hier in unterschiedlichem Ausmaß somatische und psychosoziale Prozesse zusammen. Für Psychotherapeuten ist die Interventionsebene aber eben die der psychosozialen Prozesse, welche die Gesamtdynamiken stabilisieren und so gegebenenfalls wichtige Entwicklungsschritte behindern können. Diese Aspekte sind gerade von der systemischen Therapie theoretisch aufgearbeitet worden, wobei gleichzeitig ein großes Spektrum praxisbezogener Vorgehensweisen zur Veränderung solcher destruktiven Überstabilitäten entwickelt wurde.
Drapetomanie und ADHS sind nur Beispiele für den Trend, eine enge medizinische Sichtweise an viele menschliche und zwischenmenschliche Probleme heranzutragen, bei denen unübersehbar das materielle, soziale und kulturelle Umfeld einen wesentlichen Einfluss haben. Dies ist für die systemische Therapie und Beratung besonders bedeutsam, weil gerade dieser Ansatz die Ausdifferenzierung und Stabilisierung von Symptomen im Kontext der je spezifischen Umwelten in den Fokus der praktischen Arbeit und ihrer theoretischen Aufarbeitung gestellt hat. Daher kam im Zuge des von den systemischen Verbänden gefassten Entschlusses, den langen Weg der berufsrechtlichen und sozialrechtlichen »Anerkennung« der systemischen Therapie zu gehen, zu Recht auch die Frage nach den Gefahren und Nachteilen dieses Schrittes auf. Denn es war und ist klar, dass der für eine kassenrelevante Zulassung zuständige »Gemeinsame Bundesausschuss« (G-BA) bisher nicht gewillt ist, die großen Unterschiede zwischen chirurgischen Eingriffen, der Behandlung mit Medikamenten und Psychotherapie zu berücksichtigen, sondern alles nach einem einzigen – und zudem sehr reduzierten – Modell von evidenzbasierter Medizin beurteilt.
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