Oelschlägel erinnert daran, dass im ersten Drittel des 20. Jhs. seitens der damals sogenannten »kommunalen Fürsorge« und der »Freien Wohlfahrtspflege« bereits inhaltliche und organisatorische Grundsätze einer »stadtteilbezogenen sozialpraktischen Arbeit« gefordert und praktiziert wurden (Buck 1982; Oelschlägel 2013). Pionierinnen der Sozialen Arbeit wie Alice Salomon oder Marie Baum erkannten schon früh die Bedeutung des Einbezugs des sozialen und räumlichen Umfeldes von Wohnquartieren, Nachbarschaften und kommunaler Politik in Ergänzung zur Einzelfall- und Familienhilfe (vgl. Alice Salomon in Thole/Galuske/Gängler 1998: 132 f.; Marie Baum in Eggemann/Hering 1999: 216). Neben staatlicher Fürsorge und freien Wohlfahrtsverbänden hatte auch die Arbeiterbewegung, insbesondere die Kommunistische Partei Deutschlands mit ihrer Stadtteilarbeit in den zwanziger und dreißiger Jahren Gemeinwesenarbeit in Deutschland praktiziert (Müller 1971: 238). Während sich in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus die Gemeinwesenarbeit – wie andere Formen fortschrittlicher Sozialer Arbeit auch – nicht weiterentwickeln konnte, erlebte sie in den 1970er Jahren einen vorwiegend politisch motivierten Aufschwung, der in den 1980er Jahren wieder nachließ (Odierna 2004; Oelschlägel 1989/2013).
Zunächst dauerte es etliche Jahre, bis im Nachkriegsdeutschland Gemeinwesenarbeit als Begriff und methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit durch Rezeption der zwischenzeitlichen Entwicklungen in USA, Groß-Britannien und den Niederlanden wieder Fuß fassen konnte. Erste Publikationen in den 1950er Jahren (Kraus 1951; Lattke 1955) und Tagungen (Mayer-Kulenkampff 1962; Friedländer 1962) beschäftigten sich mit der Thematik und dem Ziel, Gemeinwesenarbeit in Deutschland wieder für die Soziale Arbeit bekannt und nutzbar zu machen (Vogel/Oel 1966). Das Spektrum der inhaltlichen Beschreibungen und Zielsetzungen von Gemeinwesenarbeit bewegte sich zwischen eher systemkonformen Lesarten, wonach Gemeinwesenarbeit die Aufgabe habe, latente Defizite bekannt zu machen und dafür Hilfsquellen des Gemeinwesens zu erschließen, und systemkritischem Verständnis der Aufdeckung von und Kritik an gesellschaftlichen Widersprüchen und Konflikten (Oelschlägel 2013). Oelschlägel benennt drei Gründe für den Anstieg praktischer Gemeinwesenarbeit in den 1950er und 1960er Jahren:
• Erstens konnten die Träger sozialer Dienste den steigenden Hilfebedarf mit den gegebenen materiellen und methodischen Maßnahmen nicht mehr decken, sodass eine methodische Weiterentwicklung erforderlich wurde.
• Zweitens kamen Staat und Kommunen durch die wachsende Kritikfähigkeit der Bürgerschaft und die Konkurrenz zwischen kapitalistischem System in der BRD und sozialistischem Regime in der DDR zunehmend unter Legitimationsdruck, der eine Orientierung am Gemeinwohl und Gemeinwesen nahelegte.
• Drittens forderten die professionellen SozialarbeiterInnen neue Strategien, um der zunehmenden Diskrepanz zwischen erhöhter Leistungsnachfrage und offensichtlichen Leistungsdefiziten sozialer Dienste zu entgehen (Oelschlägel 2013).
Nichtstaatliche Organisationen und Initiativen engagierten sich in Obdachlosensiedlungen, um dort »Hilfe zur Selbsthilfe« zu leisten. Später forcierten insbesondere christliche Kirchengemeinden in Neubaugebieten der 1960er Jahre den Ausbau einer diakonisch verstandenen Gemeinde-/Gemeinwesenarbeit, indem z. B. Gemeindehäuser errichtet wurden, die für die gesamte Bevölkerung des Gemeindegebietes oder Stadtteils offen sein sollten. 2 Bereits Ende der 1960er Jahre wurde in der bundeszentralen Fort- und Weiterbildungsstätte der evangelischen Kirche, dem Burckhardthaus Gelnhausen, das erste Weiterbildungsprogramm zu Gemeindeaufbau und -wesenarbeit mit Pfarrer Manfred Dehnen als erstem Dozenten gestartet, das in langer Tradition bis in das 21. Jh. fortgeführt wurde (Müller 2009: 218 ff.).
Die ersten Erfahrungen mit GWA in Neubaugebieten (frühe Beispiele waren Stuttgart-Freiberg, Wolfsburg und Baunatal bei Kassel), insbesondere mit dem Großsiedlungsbau der Trabantenstädte (z. B. »Osdorfer Born« in Hamburg; »Märkisches Viertel« in Berlin; »Neu-Perlach« in München; »Landwasser« in Freiburg), offenbarten die Mängel der bis dahin gewöhnlich top-down angelegten Stadtplanung ohne Bürgerbeteiligung (Hubbertz 1984; Gronemeyer/Bahr 1977). GWA sollte dazu beitragen, dass bei Planungen die Bevölkerung in die Gestaltung ihres Lebensumfeldes einbezogen und nicht über ihre Köpfe hinweg geplant und entschieden wird. Damit verbunden war die Forderung an professionelle Soziale Arbeit, sich in Stadt-(Teil-)Planung einzumischen und das Feld nicht alleine den »Bauplanern« zu überlassen (Wendt 1989).
In diesem Entwicklungsstadium der GWA wurde deren gesellschaftspolitische Bedeutung offensichtlich und entsprechend kontrovers diskutiert. Während Gemeinwesenarbeit einerseits obrigkeitsstaatliches (hier kommunales) Handeln durch Information der Bevölkerung legitimieren und die Menschen von der Notwendigkeit und Richtigkeit planerischer Entscheidungen, wie z. B. Sanierungs- und Neubaumaßnahmen, überzeugen sollte, wurde von anderer Seite die gesellschaftskritische Rolle der GWA und die Aufgabe der Demokratisierung der Gesellschaft reklamiert (Müller, W. 1972: 85).
Ziel der GWA war damals die Organisation der Menschen im Stadtteil. Die Wege zur Zielerreichung variierten allerdings zwischen der Selbstorganisation der Betroffenen, bei der GWA die Aufgabe zukommt, Möglichkeiten der Selbstorganisation zu initiieren und zu unterstützen, und der von anderen damaligen Akteuren intendierten Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch Engagement für die »Arbeiterklasse« und in deren Organisationen (Oelschlägel 2013).
Die Diskussionen über GWA und innerhalb der professionellen GWA spiegelten sich in den Fachpublikationen, womit sich zunehmend eine eigenständige deutsche GWA-Rezeption entwickelte. Die GWA-Klassiker von Murray Ross (1968) und Joe Boer (1970) wurden von C. W. Müller (1971) und dem Arbeitskreis kritische Sozialarbeit (AKS 1974) für ihre »systemerhaltende« Haltung kritisiert. Die Schriften von Saul Alinsky (1973; 1974) wurden neben anderen damals wesentlichen Ansätzen in dem Reader zur Theorie und Strategie von GWA der Victor-Gollancz-Stiftung 3 (1974) rezipiert.
Ende der 1960er Jahre organisierten sich GemeinwesenarbeiterInnen anlässlich der Tagung des Verbandes Deutscher Nachbarschaftsheime (ab 1971 »Verband für sozial-kulturelle Arbeit e. V.«) und gründeten innerhalb des Verbandes, aber in Koordination mit Berufsverbänden (»Moderne Sozialarbeit«) und Gewerkschaften (ÖTV und GEW) die Sektion Gemeinwesenarbeit. Das »Forum Märkisches Viertel« in Berlin war zum vorläufigen Informations- und Koordinationszentrum geworden, und mit einem eigenen Rundbrief wurden Anschriften interessierter GemeinwesenarbeiterInnen, Kurzcharakteristiken neuer Projekte der GWA und Hinweise auf Fachliteratur und Tagungen in Fachkreisen publik gemacht. Diese Sektion GWA hatte Bestand bis 1979 (Oelschlägel 2013).
Bereits zu Beginn der 1970er Jahre wurden empirische Untersuchungen zu den Wirkungen der GWA durchgeführt, die u. a. den damals hohen politischen Anspruch in der Praxis als nicht einlösbar beurteilte, sondern die GWA im Spannungsfeld zwischen Behördenzielen und Bevölkerungsinteressen verortet sah (Victor-Gollancz-Stiftung 1972; Mesle 1978). Schon damals wurde als Erkenntnis aus den Untersuchungen die Notwendigkeit der Verbindung zwischen GWA und Stadtplanung/-entwicklung als kommunalpolitische Aufgabe erkannt (Müller 2009: 223 ff.). Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen war in Deutschland als »Gemeinwesenarbeit (GWA)« also zuerst eine weitere Methode neben Einzelfallhilfe und sozialer Gruppenarbeit (1950er Jahre), danach eine revolutionäre Vision (1960/70er Jahre) und durchlief seit den 1980er Jahren weitere Entwicklungen.
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