Obwohl oder vielleicht gerade weil »Gemeinwesenarbeit« als ein, gelegentlich als »Methode« bezeichnetes, vergleichsweise frühes Arbeitsfeld Sozialer Arbeit identifiziert werden kann (
Kap. 1), hat es bis heute starke konzeptionelle und begriffliche Ausdifferenzierungen erfahren. Mit »Community Organizing«, »Stadt (teil)- oder Quartierentwicklung«, »Quartiermanagement«, »Gemeinwesen-« oder »Solidar-Ökonomie« sind nur einige Begriffe genannt, hinter denen sich mehr oder wenig klar beschriebene Konzepte und Aufgabenfelder verbergen. Die Gemeinsamkeiten liegen dabei in erster Linie auf der Verbindung sozialer und räumlicher Bezüge, die sich aus einer Perspektive ergeben, die aus der Mikroebene von Individuen, auf die Mesoebene der Lebens- und Aktionsräume von Gruppierungen, Milieus und Szenen in Stadtteilen und Quartieren sowie auf die Makroebene von Stadtgesellschaften, Regionen und Staaten heraus zoomt. Der AdressatInnenkreis geht dabei über die klassische Klientel Sozialer Arbeit hinaus und bezieht potenziell alle Menschen in einem sozial- und räumlich strukturierten Lebens- und Aktionsumfeld ein. Unter der Formel »Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip« oder der Bezeichnung »Sozialraumorientierung« (Becker 2020b) haben sich Konzepte entwickelt, die mittlerweile in vielen klassischen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit Einzug gehalten haben und mit Beteiligung und Aktivierung Betroffener, Beachtung und Nutzung von Ressourcen des sozialen Nahraums sowie institutioneller und individueller Vernetzung versuchen, ihrer jeweiligen Aufgabenstellung gerechter zu werden. So setzt die Ausrichtung der »gemeindenahen Psychiatrie« auf die Potentiale von Angehörigen, Nachbarschaft und sozialem Umfeld von Menschen mit psychischen Belastungen. Dies gilt auch für die Altenhilfe, wo ambulante vor stationären Hilfen und nahräumliche Versorgung bevorzugt werden. In der Jugendhilfe wird mit »Mobiler Jugendarbeit« und Straßensozialarbeit versucht, sozialräumliche Akzente zu setzen oder gar Finanzbudgets auf »Sozialräume« zu beziehen. Zur Integration von MigrantInnen wird versucht, über MultiplikatorInnen »Netzwerke der Integration vor Ort« zu schaffen. Die soziale, verkehrliche und ökonomische Infrastruktur am Lebens- und Wohnort wird für Menschen immer wichtiger, auch wenn sie bislang keine AdressatInnen Sozialer Arbeit sind. Interdisziplinäre Kooperation, institutionelle Vernetzung und gemeinsame Ressourcennutzung scheinen sich, wo bislang praktiziert, zu bewähren. Innerhalb integrierter Quartierskonzepte arbeiten im Idealfall SozialarbeiterInnen, Verwaltungsfachkräfte, ArchitektInnen und Angehörige anderer Professionen beim Aufbau von Strukturen und Prozessen zusammen, um allen Generationen, Gesunden wie Kranken, Einheimischen und Zugereisten ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben in ihrem sozialen und räumlichen Umfeld zu ermöglichen. Fachkräfte und Bevölkerung werden, durch einschlägige Europa-, Bundes- und Länderprogramme, die die soziale Stadtentwicklung befördern sollen, darin unterstützt, die ganzheitliche Entwicklung von Städten, Stadtteilen und Quartieren in den Blick nehmen.
Es ändern sich folglich Berufsbilder und Aufgaben. Sozialraumorientierung, in Ergänzung der individuellen Fallorientierung, Kooperation, Koordination, Moderation, Vernetzung, Gewinnung und Fortbildung von engagierten BürgerInnen, Netzwerkarbeit im sozialräumlichen Kontext und integrierte Sozialraumanalysen setzen eigene Kompetenzen, Ressourcen und Steuerungsprinzipien voraus.
Dieser Band konzentriert sich auf jenes Handlungsfeld Sozialer Arbeit, in dem integrative Konzepte sozialer Stadt- und Quartierentwicklung zur Anwendung kommen, in dem danach gefragt wird, wie eine Stadt und ihre Quartiere so gestaltet werden können, dass sie den Interessen ihrer älter und bunter werdenden Bevölkerung gerecht werden und für eine vielfältige Bevölkerung, von Jung und Alt, Einheimischen und Zugereisten, Armen und Reichen, Kindern und Erwachsenen attraktiv, wirtschaftlich leistungsfähig und ökologisch nachhaltig sind.
Handlungsfeldorientierung im Sinne des dieser Publikationsreihe zugrunde liegenden »Freiburger Modells« bedeutet, die aktuellen Bedingungen und Entwicklungen in bestimmten Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit in den Blick zu nehmen und die daraus abzuleitenden Aktionen und Interventionen, mit denen die Soziale Arbeit fachlich arbeitet, in Bezug zu setzen zu den jeweils passenden und notwendigen Handlungskonzepten und Methoden. Handlungskonzepte, Methoden und Techniken werden in diesem Band also auf die handlungsfeldspezifischen Charakteristika von Aufgabenstellungen, Rechtsgrundlagen, Governance, Trägerlandschaften und Situationen von Stadt- und Quartierentwicklung bezogen.
Die Handlungsfeldorientierung dieser Reihe und damit dieses ersten Bandes ist auch vor dem Hintergrund der Kompetenzorientierung als Erfordernis des Bologna-Prozesses zu sehen. Auf der Grundlage des dreidimensionalen Kompetenzbegriffs, wie er im Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) definiert wird, spielen sowohl theoriebegründete Handlungskonzepte als auch die Methoden der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle beim integrierenden Modell der Handlungsfeldorientierung. Die Kombination von Wissensbeständen aus Bezugswissenschaften und Erkenntnissen der Wissenschaft Soziale Arbeit (Erklärungswissen), mit Kenntnissen und Fähigkeiten der Entwicklung und Anwendung von Methoden (Handlungswissen und Analyse-/Synthese-/Kritikfähigkeit), bildet auf der Grundlage von Wertorientierungen und Haltungen die Basis der Ausbildung spezifischer Handlungskompetenzen Sozialer Arbeit.
Das Handlungsfeld der sozialen Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit erfordert spezifische Kenntnisse sowie ein differenziertes Verständnis sozialer Probleme. Dafür braucht es eine Verständigung über gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, die problematische Lebenslagen produzieren können. Grundlage dafür sind Fähigkeiten, gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie demografische, ökonomische, politische und ökologische Strukturen und Prozesse analysieren und kritisch interpretieren zu können. Im Einzelnen geht es darum, die wesentlichen demografischen Trends (wie Migration, natürliches Wachstum, Alterung), ökonomischen Entwicklungen (wie Globalisierung, Tertiarisierung, Polarisierung von Regionen, Stadtgesellschaften, Arbeitsmarkt und interkommunaler Wettbewerb), politischen Veränderungen (wie z. B. »unternehmerische Stadtpolitik«, Populismus und Radikalisierung) und deren gesellschaftliche Auswirkungen zu kennen und diese vor dem Hintergrund von Gesellschaftstheorien erklären sowie Interventionen im Rahmen staatlicher Sozial-/Wohlfahrtsregime konzipieren und bewerten zu können. Darüber hinaus gilt es, die politischen, rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für effektive Interventionen Sozialer Arbeit analysieren und, auf lokale Gegebenheiten übertragen, nutzen zu können. Das Wissen um individuelle Lebenslagen, aber auch sozialpsychologische und gruppensoziologische Erkenntnisse über menschliche Lebensformen und Milieus sind hilfreich, um Beteiligungs- und Aktivierungsprozesse in Gemeinwesen planen, initiieren und durchführen zu können, die den betroffenen Menschen, unter Einbezug ihrer Interessen und Fähigkeiten, mehr Handlungsoptionen eröffnen und ihre Selbstwirksamkeitserfahrungen erweitern. Sich als Fachkräfte weniger als »ProblemlöserIn«, sondern eher als »UnterstützerIn« von Potentialen und Interessen, die teilweise bereits vorhanden, aber noch nicht zur Geltung gekommen sind, zu verstehen, wäre dabei Teil der professionellen Haltung. Der Aufbau einer professionsbezogenen Identität wird durch eine Verständigung über die Geschichte und die Entwicklungsphasen des Handlungsfeldes ermöglicht. Dabei wird zur Reflexion des beruflichen Selbstverständnisses und der Wertvorstellungen, an denen sich das berufliche Engagement orientiert, herausgefordert. Die eigene Rolle als Gemeinwesen-/QuartierarbeiterIn bzw. QuartiermanagerIn oder sozialraumorientierte SozialarbeiterIn in anderen Handlungsfeldern definieren und gegenüber KollegInnen der eigenen und anderer Berufsgruppen/Professionen sowie AdressatInnen verständlich darzustellen, gehört zu den professionellen Kompetenzen. Dies impliziert, die für soziale Stadt-/Quartierentwicklung und Gemeinwesenarbeit wesentlichen Konzepte (wie z. B. Sozialraum-, Lebenswelt-, Ressourcen-, Managementorientierung) und Methoden (wie z. B. Empowerment, Netzwerkarbeit, Bürgerbeteiligung, Streetwork, Projektarbeit, Sozialstrukturanalyse, Sozialraumanalyse etc.) kennen und diese situations- und personengerecht entsprechend anwenden zu können. Dazu ist die Fähigkeit erforderlich, für das Handlungsfeld wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse recherchieren, analysieren, interpretieren und anwenden zu können. Neben Sozialstruktur- und Sozialraumanalysen sind weitere Methoden und Instrumente der Aktionsforschung (wie z. B. die aktivierende Befragung) zu kennen und konzipieren, durchführen und auswerten zu können.
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