Ich begebe mich in mein Zimmer. Wie immer zähle ich die Schritte. Ich nehme mir ständig vor, meine Schritte nicht zu zählen. Aber doch tue ich es immer wieder. Ich kann nicht anders. Es ist ein Zwang, der mich beherrscht. Es sind dreizehn.
Ich laufe wie immer über den alten Perser. Ich kann mich noch daran erinnern, wie stolz sie gewesen ist, als sie diesen Teppich zum ersten Mal auf dem Boden ausgerollt hat. Wie frisch die Farben geleuchtet haben und wie weich er sich angefühlt hat. Dann wurde alles anders.
Ich gehe ins Bad, reiße mir die Kleider herunter und werfe sie achtlos auf den Fußboden. Kleider, die mit ihrem Geruch durchtränkt sind und mit ihrem Blut.
Ich steige in die Dusche und drehe den Hahn voll auf. Ich spüre, wie das eiskalte Wasser über meinen Kopf und meinen Körper läuft. Wie es versucht, die Sünde abzuwaschen. Ich zittere am ganzen Körper. Trotzdem bleibe ich unter dem kalten Wasserstrahl stehen. Spüre, wie die Kälte des Wassers in meine Knochen dringt. Ich halte den Kopf gesenkt und sehe dem Wasser nach, wie es im Abfluss verschwindet. Mein Blick fällt auf meinen Penis. Trotz der Kälte ist er erigiert. Ich spüre die Lust, die mich durchflutet. Mein Atem geht schneller und ich lege Hand an mich. Ein kleines Vorspiel, denn heute Abend werde ich ein Liebhaber sein. Heute Abend habe ich ein ganz besonderes Date.
Laura wachte auf, als ihr Handy klingelte. Mit halb geöffneten Augen schielte sie zum Wecker. In ein paar Minuten hätte sie ohnehin aufstehen müssen. Sie langte auf den Nachttisch und tastete nach dem Telefon.
„Braun“, meldete sie sich müde und schlecht gelaunt. Wer um diese Zeit anrief, sollte einen guten Grund haben.
„Es war wieder unser Freund“, erklärte Ackermann eine halbe Stunde später, als Laura am Tatort im Heidelberger Stadtteil Kirchheim eintraf. Er kam ihr im Treppenhaus entgegen, um ihr Überzieher und Handschuhe zu reichen. Überrascht sah er sie an. „Na, wohl ´ne kurze Nacht gehabt“, sagte er grinsend.
„Ja, ganz toll. Meine Mutter hatte gestern Geburtstag!“
„Oh, das hört sich an, als hättest du richtig viel Spaß gehabt!“ Sein Grinsen wurde noch breiter.
„Keine Fragen, bitte!“
Sie hatte nur schnell geduscht und das Erstbeste, was ihr in die Finger kam, angezogen. Nun stellte sie fest, dass ihre Bluse einen Fleck hatte und genauso zerknittert aussah wie sie selbst. Sie hatte schlecht geschlafen und die Geburtstagsfeier ihrer Mutter steckte ihr immer noch in den Knochen. Ihr Schädel dröhnte, denn Onkel Phillip hatte ständig ihr Weinglas aufgefüllt und gemeint, dass eine Polizistin, die nicht im Dienst wäre, durchaus mal einen heben sollte. Dabei mochte Laura gar keinen Wein. Ein anständiges Bier wäre ihr lieber gewesen. Ihre Tante hatte zum hundertsten Mal gefragt, wann sie denn endlich heiraten und Kinder in die Welt setzten würde. Und wie jedes Mal hatte sie sich anhören müssen, dass ihre Tante ja schließlich ihren Teil zur Gesellschaft beigetragen hätte. Immerhin hätte sie vier Kinder großgezogen, aus denen etwas geworden sei.
Laura war geblieben, bis alle gegangen waren, um ihrer Mutter beim Abwaschen und Aufräumen zu helfen. Zu allem Übel hatte ihre Mutter zu weinen angefangen. Wie so oft an Festtagen. Alle Jahre wieder wurde ihre Mutter an ihrem Geburtstag sentimental, weil sie sich daran erinnerte, dass es das letzte Fest war, welches sie zusammen mit ihrem Pflegesohn David gefeiert hatten. Als Laura zehn Jahre alt gewesen war, war sie eines Morgens aus ihrem Zimmer gekommen und hatte auf der Couch einen kleinen Jungen schlafen gesehen. Für Lauras Familie war dies nichts Besonderes, da ihre Mutter ständig jemanden bei sich aufnahm. Das konnte auch schon mal eine herrenlose Katze, ein kleiner Igel oder ein aus dem Nest gefallenes Vogelbaby sein. Regina Braun hatte ein großes Herz für Bedürftige, sie engagierte sich für die Armen und kochte jeden Donnerstag in der Mannheimer Armenküche für Obdachlose. Hin und wieder schliefen auch mal für ein paar Tage irgendwelche Kinder bei ihnen. Meistens nur für zwei oder drei Wochen, bis das Jugendamt eine Pflegefamilie für diese Kinder fand. Laura machte sich zuerst gar nicht die Mühe, sich an den Jungen zu gewöhnen, da er sowieso nicht lange bleiben würde. Nur dass dieses Mal ihr Besuch über ein Jahr blieb, bis er einen Tag nach dem Geburtstag ihrer Mutter zurück zu seiner leiblichen Mutter gebracht wurde. Für Laura war das nicht weiter schlimm. Es würde sicherlich nicht lange dauern, bis das nächste Kind bei ihnen untergebracht werden würde. Schließlich waren ihre Eltern beim Jugendamt als Kurzzeitpflegeeltern registriert. Aber ihre Mutter hatte sich so an den Jungen gewöhnt, dass sie sehr unter der Trennung gelitten und deshalb nie wieder ein Kind aufgenommen hatte. Laura erinnerte sich daran, dass sie öfter mal von der Schule nach Hause gekommen war und ihre Mutter weinend am Küchentisch fand. Laura war zu dieser Zeit in der Pubertät gewesen und hatte ihre Mutter ohnehin merkwürdig gefunden. Dass sie einem Kind nachtrauerte, welches nicht ihr eigenes war, hatte sie einfach nicht verstanden. Ganz im Gegenteil. Die Trauer ihrer Mutter hatte in Laura immer ein Gefühl von Eifersucht und Wut ausgelöst. Als Jugendliche hatte sie sich oft gefragt, ob ihre Mutter auch so getrauert hätte, wenn sie von zu Hause weggelaufen wäre.
Gestern Abend hatte sie dann ihre Mutter so lange in die Arme genommen und getröstet, bis diese sich einigermaßen wieder beruhigt hatte. Laura war erst gegangen, als ihre Mutter ihr versichert hatte, sie könnte bedenkenlos gehen. Um kurz nach zwei war Laura todmüde ins Bett gefallen. Folglich sah sie nun alles andere als frisch aus.
„Wo ist sie?“, fragte sie, während sie die Überzieher über ihre Schuhe streifte. Ackermann nahm einen tiefen Atemzug. „Die Treppe hoch, dann rechts.“
Zögernd und mit pochendem Herzen trat Laura über die Türschwelle. Es war ihr klar, dass sie mit dem Schlimmsten rechnen musste. Ackermann hatte gesagt, dass sie es wieder mit dem Mörder zu tun hatten, der die Frauenleiche in der Hildebrandschen Mühle präsentiert hatte. Wenn sie daran dachte, was er mit dem ersten Opfer alles angestellt hatte, war ihr klar, dass er auch dieses Mal nicht einfach nur getötet hatte.
Auf den ersten Blick wirkte die Wohnung ganz normal. Als Laura sie betrat, sah sie nichts, was auf ein Verbrechen hindeutete. Nichts, dessen Anblick sie erschreckte. Sie stand in einem langen Flur mit Türen zu beiden Seiten. An einer Wand hing ein langer schwarzer Ledermantel an einer Garderobe. Daneben befand sich ein deckenhoher Spiegel. Auf der anderen Seite stand eine Kommode mit einem großen Kerzenständer, an dem alle Kerzen heruntergebrannt waren. Das Wachs hatte eine erkaltete Pfütze auf dem Läufer hinterlassen. Durch die geöffnete Tür auf der linken Seite blickte sie in einen in Rot und Schwarz gehaltenen Raum. Sie blieb kurz stehen. Mitten in dem abgedunkelten Zimmer erkannte sie einen schwarzen Stuhl, der sie an den bei ihrem Gynäkologen erinnerte. Auch hier war alles in Ordnung, kein Blut, keine Leiche. Sie ging weiter den Flur entlang und kam an einer kleinen modernen Küche vorbei, die offensichtlich nicht benutzt worden war. Nichts wies darauf hin, dass hier jemand gekocht hatte. „Wenn meine Küche auch mal so ordentlich aussehen würde!“, dachte sie. Aus einem anderen Zimmer hörte sie Stimmen. Sie ging darauf zu.
Als sie den Raum betrat, stockte ihr der Atem. Ihr Herz machte einen Aussetzer und ihr Puls raste. Als sie den Flur der Wohnung betreten hatte, hatte sie sich vorgenommen, mit allem zu rechnen. Sie wusste, dass das, was sie zu sehen bekäme, schockierend sein würde, und sie wusste, dass etwas Schreckliches mit dem Opfer passiert sein musste. Sie hatte es in den Augen von Ackermann gesehen.
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