„Hatte sie Sex?“, fragte Laura. „Ja, sieht ganz danach aus. Ob einvernehmlich oder nicht, kann ich derzeit noch nicht sagen. Alles Weitere erfahren Sie dann bei der Obduktion. Ich sehe Sie morgen früh um acht in meinem Obduktionssaal.“
Mit diesen Worten wandte sich die Pathologin ab, nahm ihre Tasche und verließ den Tatort. Der Beamte, der die ganze Szene fotografierte, fragte: „Wieso liegt da ein Lolli?“
Bevor Laura den Türöffner an der Wand betätigte, warf sie einen schnellen Blick durch das eckige Glasfenster in der Tür. Zu ihrer Erleichterung war die Leiche noch mit einem Tuch abgedeckt. Eine kurze Gnadenfrist, bevor die grausigen Einzelheiten der Tat zum Vorschein kämen. Sie grüßte kurz in die Runde. Die Pathologin von gestern Abend hob den Kopf, um zu sehen, wer durch die Tür getreten war. Sie überprüfte gerade die Instrumente, die ihr ein Mitarbeiter auf einem Tablettwagen bereitgelegt hatte. Heute konnte Laura das Namensschild erkennen. „Dr. Elena Salonis“ las sie. Nun wusste sie, wer diese Ärztin war, denn von der zierlichen Pathologin mit griechischen Eltern hatte sie schon gehört.
Dr. Salonis war bekannt für ihre Präzision und Rationalität. Sie duldete keine Fehler, weder bei sich noch bei anderen. Ebenso duldete sie keine Witze in ihrem Sektionssaal. Sie behandelte die Toten mit Respekt und sollte jemand auf die Idee kommen, in ihrer Gegenwart einen dummen Kommentar über ihre Patienten zu machen, würde diese Person ihr griechisches Temperament zu spüren bekommen. Auf der anderen Seite des Tisches stand ihr Partner Falk Ackermann. Daneben Christian Sommer, der ebenso zu ihrem Ermittlungsteam gehörte. Laura schätzte ihn auf Ende dreißig. Er war ein richtiger Sherifftyp, groß, durchtrainiert, muskelbepackt mit Stiernacken, der meistens mürrisch dreinschaute, was sich heute verschärfte, da er wie alle Anwesenden die vorgeschriebene Schutzkleidung trug. Seine Augen wirkten zwischen dem Saum der OP-Haube und dem Rand des Mundschutzes noch verkniffener als sonst. Laura wusste, dass er sie nicht leiden konnte. Er wollte keine weitere Frau im Dezernat. Dass sie nun die Leitung in diesem Fall hatte, gefiel ihm gar nicht. Sie grüßte ihre Kollegen mit einem kurzen Nicken. Ein weiterer Mitarbeiter betrat mit einem Stapel Röntgenbilder den Raum. Die Aufnahmen machten ein schwirrendes Geräusch, als er sie an den Betrachter hängte. Sofort ging Dr. Salonis zu den Röntgenbildern und studierte eingehend die Gebissaufnahmen der unbekannten Toten.
„Wissen wir mittlerweile, wer sie ist?“
Ohne den Blick von dem Pantomogramm zu nehmen, griff sie nach einer Lupe vom Tablettwagen. Es hatte den Anschein, als fixierte sie eine bestimmte Stelle auf der Röntgenaufnahme. „Nein“, sagte Laura. Dabei versuchte sie auszumachen, was die Ärztin an dieser Aufnahme so interessierte. Für Laura schienen es ganz normale Gebissaufnahmen zu sein.
Die Pathologin wandte sich einer weiteren Aufnahme zu: „Es könnte sein, dass unsere Unbekannte aus der ehemaligen Sowjetunion stammt.“
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Laura überrascht. Dr. Salonis drehte sich zu Laura um. „Schauen Sie mal hier.“ Sie zeigte auf eine Stelle an einem Backenzahn im Unterkiefer. Laura ging näher heran, um besser sehen zu können. Dr. Salonis reichte ihr die Lupe. Es dauerte einen Moment, bis Laura sah, was die Frau neben ihr meinte. Ein Backenzahn sah aus, als hätte er eine Art hauchfeine Ummantelung.
„So, wie es aussieht, handelt es sich um eine Scharpey-Krone. Das ist eine Zahnkrone, wie sie vor einigen Jahren noch in Teilen von Russland gefertigt wurde. Im Gegensatz zu in Deutschland hergestellten Vollgusskronen ist dies eine sogenannte gestanzte Krone. Sie ist günstig und ohne viel Aufwand herzustellen. Schauen wir uns das doch einfach mal an!“
Sie trat an den Sektionstisch und hob das weiße Laken an. Sie deckte die Leiche nur bis zum Hals auf, sodass Laura lediglich den Kopf der Toten sah. Auf ihrem Gesicht waren noch Reste von Make-up zu erkennen. Die mit schwarzem Kajal betonten Augen starrten leblos zur Decke und hatten ihren Glanz verloren. Ihr Gesicht hatte die Farbe von grauem Marmor angenommen. Die blauen Blutgefäße schimmerten durch ihre blasse Haut. Die Lippen waren blau und leicht geöffnet. Laura konnte sehr weiße Zähne und ein Lippenbandpiercing erkennen.
Der Assistent, der schon am Tisch bereitstand, öffnete den Mund der Toten. Dr. Salonis nahm eine Sonde und eine kleine Taschenlampe, mit der sie in die Mundhöhle leuchtete. Innerhalb weniger Sekunden fand sie den überkronten Zahn. „Sehen Sie die glatten Flächen der Krone?“
Laura erkannte eine metallische Zahnverblendung, die aussah, als hätte jemand eine glatt-glänzende Hülse über den Zahn gestülpt.
„Sie hat nur ein sehr geringes Kauflächenprofil. Dies entspricht nicht dem heutigen deutschen Standard“, fuhr die Pathologin fort. „Auch die angrenzenden EU-Staaten verwenden seit Jahrzehnten keine Stanzkronen mehr. Aber die noch in Massen von russischen Spätaussiedlern getragenen Goldkronen deuten auf diese Herstellungsart hin. Diese Kronen haben eine nur schwach angedeutete Modulation der Kauflächen und oft einen großen Randspalt. Da diese Goldkronen meistens aus einem sehr dünnen Goldblech gefertigt werden, sind sie auf Röntgenbildern teilweise nur schwer zu erkennen.“ Dr. Salonis nickte ihrem Assistenten zu. Dieser entfernte das Leichentuch und warf es in einen bereitstehenden Metallcontainer.
Nun sahen alle Anwesenden, was der jungen Frau angetan worden war. Laura bemerkte, wie Sommer schluckte, und sie selbst spürte, wie ihr Magen zu rebellieren begann. Sie straffte die Schultern und starrte auf die Leiche.
Die Seile waren entfernt und das Blut war größtenteils abgewaschen worden. Die Frau lag ausgestreckt auf dem Rücken. Ihr Hals zeigte zum einen eine klaffende Wunde und zum anderen bläuliche Flecken, die wie Würgemale aussahen. Ihr Körper war übersät mit roten Striemen und Blutergüssen. Die Hand- und Fußgelenke ließen Spuren von Fesseln erkennen. Laura stellte erschrocken fest, dass es sich bei der blutverkrusteten Wunde am Oberarm nicht, wie vermutet, um eine normale Wunde handelte, sondern unverkennbar um die eingeritzte Zahl Dreizehn. Dr. Salonis dokumentierte in sachlichem Ton die äußere Besichtigung. Ihrer Stimme konnte man keine Gefühlsregung entnehmen. Laura musterte die elegante, schlanke Frau. Einige ihrer schwarzen Locken lugten unter der OP-Haube hervor. Sie beobachtete, wie die Pathologin den Hals intensiv untersuchte und sich die Strangulationsmale ansah, bevor sie die Schnittwunde am Hals ausmaß.
„18,4 cm, Carotis rechts an der Bifurkation durchtrennt, Schildknorpel angeritzt, offensichtlich die Todesursache. Die Wundränder sind glatt. Sieht nach einem einzigen Schnitt mit einem sehr scharfen Messer mit glatter, einschneidiger Klinge aus.“ Dr. Salonis sah Laura direkt in die Augen.
„Der Täter hat nicht gezögert und wusste genau, wie er das Messer führen musste, um effektiv zu sein. Hier können Sie einen rechtwinkligen Einschnitt am Wundrand sehen“, sie zeigte auf ein Ende der Wunde. „Das ist ein Hinweis darauf, dass der Täter von links nach rechts geschnitten hat.“
„Er ist Rechtshänder?“, fragte Sommer. Die Pathologin nickte. „Ja, eindeutig.“
„Aber sie wurde auch stranguliert“, meinte Ackermann mit Blick auf die dunklen Flecken am Hals der Toten.
„Ja“, erwiderte Dr. Salonis, „eine Kompression der Halsweichteile ist deutlich zu erkennen.“ Sie griff erneut nach der kleinen Taschenlampe. „Aber wie Sie hier sehen“, sie öffnete noch einmal den Mund des Opfers und leuchtete in die Mundhöhle, „ist das Zungenbein nicht gebrochen.“
„Wieso hat der Täter sie dann vorher noch gewürgt?“, warf Sommer ein.
„Atemkontrolle“, meinte Laura. Dr. Salonis nickte bestätigend.
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