Das Handy begann, neben dem Waschtisch zu tanzen. Der Bildschirm leuchtete verlockend.
»Nicht jetzt!«, schnauzte sie es an und schaltete es aus, ohne hinzusehen.
»Es interessiert mich nicht – jetzt nicht«, wiederholte sie immer wieder unter der Dusche.
Kaum trocken, las sie Haases Nachricht. Es gibt eine Verbindung vom Geiselnehmer Schäfer zur Klinik Seeblick, schrieb er. Ein seltsamer Todesfall …
»Also doch«, murmelte sie beim Lesen, »armer Jamie.«
Kapitel 2
Wien
Für ein »Guten Morgen« hatte es immerhin gereicht. Nun benutzte Jamie jede Gelegenheit, sich mit Kollegen am Kongress zu unterhalten, offensichtlich bemüht, nicht mit ihr sprechen zu müssen. Mona war es auch aufgefallen.
»Was hat er nur?«
Chris zuckte die Achseln. »Vielleicht die Nervosität vor seinem Referat.«
»Ist ja wohl nicht sein erstes.« Nachdem sie Jamie und Nick eine Weile beobachtet hatte, kam sie auf den Punkt: »Ihr habt euch gestritten. Meinetwegen?«
»Da kann ich dich beruhigen«, sagte Chris abwesend, während sie versuchte, Nicks Lippen zu lesen.
Von nun an war alles wichtig, was der Besitzer der Klinik Seeblick sagte. Die ersten Zuhörer betraten den Saal, in dem Jamie seinen großen Auftritt feiern würde. Um Boden gutzumachen, bemühte sie sich um einen Platz in der vordersten Reihe. Als Chemikerin war sie nicht vom Fach, aber jahrelange Übung im Umgang mit der Staatsanwaltschaft hatte sie gelehrt, bei jedem Thema einen kompetenten Eindruck zu machen. Nicks und Monas gespannte Erwartung war nicht gespielt, ebenso wenig die der versammelten Mediziner und Biologen im Saal. Nichts Geringeres als eine medizinische Sensation hatte der Konferenzleiter angekündigt.
»Dear Collegues«, begann Jamie, »ich möchte Ihnen heute von einer Entdeckung berichten, die ich mit meinem Team in Berlin machen durfte. Wir glauben, den Schlüssel gefunden zu haben, Gene Editing und damit künftige Gentherapien sicherer und um mehrere Größenordnungen effizienter zu gestalten.«
Man hätte einen Schmetterling flattern hören, so still war es jetzt im Saal.
»Es mag vermessen erscheinen, so kurz nach der Jahrhundert-Entdeckung von CRISPR/Cas-9 schon wieder von einem Durchbruch zu sprechen – aber entscheiden Sie selbst.«
Er hätte sie schon verloren, wäre sie nicht durch seine begeisterten Monologe in der Küche zu Hause gut vorbereitet gewesen. Er verglich die Entdeckung der CRISPR/Cas-9 Methode mit der Erfindung des Mikroskops. Die Genetiker besaßen damit ein neues Werkzeug, mit dem sie präzise jede Stelle der Erbsubstanz adressieren und verändern konnten. Das Potenzial für die Heilung von Erbkrankheiten konnte noch gar nicht abgeschätzt werden. Die Methode stieß die Tür zu einem bislang völlig unbekannten Feld der medizinischen Genetik weit auf.
»Mit der geradezu lächerlich einfachen Methode lässt sich durch geeignete synthetische RNA jede Stelle eines DNA-Strangs punktgenau anfahren«, fuhr er fort. »Das assoziierte Cas-9 Protein zerschneidet dann die DNA genau dort, wo zum Beispiel ein krankes durch ein gesundes Gen ersetzt werden soll. Das funktioniert nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis ganz gut, wie wir alle wissen.«
Um das Gesagte zu unterstreichen, projizierte er eine Grafik an die Wand, welche als Illustration der CRISPR/Cas-9 Methode auch durch die Tagespresse verbreitet worden war. Mit gequältem Lächeln nahm er den Faden wieder auf.
»Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen, spielt die Natur auch in diesem Fall nicht immer genau nach unsern Regeln. Lassen Sie mich kurz die zwei wichtigsten Probleme beschreiben, mit denen wir uns konfrontiert sehen. Off-target-effects sind am gefährlichsten, da werden Sie mir zustimmen. Das Protein Cas-9 schneidet nicht immer ganz präzise an der gewünschten Stelle. Fast immer, aber eben nicht immer. Dadurch können unerwartete Einschübe und Löschungen in der DNA, sogenannte INDELs, entstehen, Nebeneffekte mit unbekannten Auswirkungen. Unser Team hat die Methode so verfeinert, dass bei mittlerweile über tausend Versuchsreihen keine einzige unerwünschte INDEL aufgetreten ist.«
Ein Raunen ging durch den Saal, was Jamie dazu benutzte, sich Wasser nachzuschenken und sie dabei genau zu beobachten.
»Das zweite Problem ist die Adressierung der gewünschten Zellen, fuhr er fort, delivery and targeting. Um CRISPR/Cas-9 effektiv in der Humanmedizin einsetzen zu können, müssen wir einen Weg finden, die Genschere und die gesunden DNA-Sequenzen sicher und effizient in die betroffenen Zellen einzuschleusen, etwa in Motoneuronen bei ALS. Bisher ist das noch mit keinem Ansatz gelungen.« Grinsend fügte er an: »Das heißt: bis vor unserer Entdeckung.«
Befreiendes Gelächter im Publikum, als hätten die Zuhörer das Problem gelöst.
»Bisherige Versuche beschränkten sich meist auf Leukozyten. Blutzellen sind leicht zu isolieren. Man kann sie gezielt behandeln, um sie danach geheilt wieder in die Blutbahn einzuschleusen. Mit Nervenzellen geht das nicht so gut.«
Der Scherz schien das Publikum köstlich zu amüsieren. Jamie wartete, bis sich der Saal beruhigte, bevor er zum K.-o.-Schlag ausholte.
»Unser Team wählte einen radikal neuen Ansatz, um das Problem des delivery and targeting zu lösen.«
Totenstille.
»Wir heilen die Zellen, indem wir sie mit AAV-Vektoren gezielt infizieren.«
Erst allmählich begriff sie ungefähr, was er damit meinte. AAV stand für Adeno-assoziierte Viren, eine an sich harmlose Virenart. Jamie und sein Team hatten diese Viren so programmiert, dass sie ganz bestimmte Muskelzellen befielen, dort die CRISPR/Cas-9 Genschere deponierten und so degenerierte Gene durch gesunde ersetzten.
»Natürlich fanden diese Versuche nicht in vivo an Menschen statt«, versicherte er schmunzelnd, »aber an lebendem menschlichem Muskelgewebe, das wir in vitro gezüchtet haben. Es besteht für uns absolut kein Zweifel, dass diese Methode genauso gut auch am lebenden Organismus funktioniert.«
»Nick wird sich freuen«, flüsterte Mona. »Genau so etwas haben wir erwartet.«
Das Gleiche sagte Nick, nachdem der tosende Applaus abgeebbt war und die aufgeregt diskutierende Schar der Gen-Chirurgen ins Foyer strömte. Er umarmte Jamie stürmisch, klopfte ihm auf den Rücken und stand kurz davor, ihn abzuküssen.
»Alter, das ist genau, was ich hören wollte!«, rief er aus. »Jetzt können wir getrost in die Schweiz zurück jetten. Besser wird‘s nicht mehr, was, Mona?«
»Schon cool«, gab sie zu, äußerlich ruhig, doch ihre Augen strahlten ebenso wie die des Kollegen.
Die beiden schienen es plötzlich eilig zu haben. Nick erwähnte eine dringende Besprechung, dann zog er seinen alten Freund kurz beiseite. Sie sollte wohl nicht hören, was gesprochen wurde, doch sie besaß das ausgezeichnete Gehör einer begabten Musikerin.
»Denk an unsern Deal, das Manuskript«, mahnte Nick, dann eilte er Mona nach mit der Bemerkung: »Wir sehen uns beim Dinner.«
Die lieben Kolleginnen und Kollegen umschwärmten Jamie eine Zeitlang wie Motten das Licht. Als sie ihm endlich allein gegenüberstand, fragte sie:
»Welches Manuskript?«
Er sah sie feindselig an, als hätte sie ihn beschimpft.
»Was soll das jetzt wieder? Ich dachte, du wolltest aufhören, meinen Freund zu bespitzeln.«
Sie hätte sich ohrfeigen können. Es war eine völlig harmlose Frage, reine Neugier. Nichts, worüber sich jemand aufregen müsste, aber sie betraf Nick. Alles, was Nick betraf, musste ab sofort tabu sein. Warum kapierte sie das nicht? Dumme Gans.
»Entschuldige«, sagte sie kleinlaut. »Lass es mich einfach wissen, wenn wir wieder normal miteinander sprechen können.«
»An mir soll‘s nicht liegen.«
Wieder ein Absturz auf der Achterbahn der Gefühle. Eine weitere Gruppe Kollegen nahm ihn in die Mitte. Sie entfernte sich in Gedanken versunken, unentschlossen, ob sie weinen oder lauthals fluchen sollte.
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