Hansjörg Anderegg - Station 9

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Diese Waffe ist perfekt, denn um Leben zu retten, müssen sehr viele sterben.
Konzert im Musikverein, Picknick auf dem Riesenrad, so stellt sich Chris den Urlaub in Wien vor. Die Hauptkommissarin des Bundeskriminalamts begleitet ihren Mann Jamie zum Ärztekongress. Seine Entdeckung perfektioniert die CRISPR/Cas-9 Technik und ermöglicht Gentherapien für bisher unheilbare Krankheiten. Er ist der Star auf dem Kongress, doch der endet abrupt mit einem Schock, der ganz Österreich erschüttert. Chris kehrt überstürzt nach Berlin zurück. Ermittler, die internationalen Waffenschiebern auf der Spur sind, sterben an einer Krankheit, für die es keinen Namen gibt. Sie erlebt den nächsten Schock, denn sie kennt die Symptome und erahnt die bevorstehende Katastrophe – wie Jamie.

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»Erkläre mir lieber, wozu du die Arbeit brauchst. Wohl kaum für deine Klinik, nehme ich an.«

»Das wird sich weisen. Deshalb muss ich genau wissen, woran ich bin.«

Jamie ließ den Rest des Cognacs im Gaumen kreisen, schluckte und bestellte zwei neue, bevor er sagte:

»Und ich will zuerst genau wissen, was ihr in Luzern treibt.«

Nach kurzem Zögern begann Nick auszupacken.

»Wir haben uns auf Gentherapie spezialisiert, wie du weißt. Angefangen hat es mit der Behandlung der Erbkrankheit LPDL.«

»Lipoproteinlipase-Defizienz, die Glybera-Story«, unterbrach er, nicht überrascht.

»Genau. Die hat international Schlagzeilen gemacht, weil eine Dosis des Medikaments etwa so teuer ist wie ein Mercedes CLS Coupé. Die Behandlung eines Patienten kostet über eine Million Euro.«

»Das liegt ja wohl in erster Linie am überrissenen Preis für Glybera.«

»Sicher, aber du siehst schon, worauf ich hinaus will. The winner takes it all, verstehst du?«

»Es geht also nur ums Geld?«

Nick schüttelte vehement den Kopf. »Nicht nur, aber wir wollen auch leben. Der Punkt ist ein anderer: Ich bin überzeugt, dass es mit den neuen Entwicklungen des Gene Editing möglich sein muss, solche Behandlungen viel günstiger und damit allen Patienten anzubieten. Ich halte nämlich nichts von Zweiklassenmedizin.«

Die Bemerkung reizte Jamie zum Lachen. »Das sagt der Richtige, Besitzer einer exklusiven Schweizer Privatklinik!«

»Egal ob du mir glaubst oder nicht. Du wirst mir zustimmen, dass möglichst alle Betroffenen geheilt werden sollten, wenn es eine Chance dazu gibt. Im Falle von LPDL bleibt sonst den Patienten nichts anderes übrig, als alle paar Wochen zur Blutwäsche anzutreten. Ganz zu schweigen von lebensgefährlicher Pankreatitis.«

Daran war nichts auszusetzen. Es gab zwar nur sehr wenige Menschen mit der Erbkrankheit LPDL, aber für die musste das Leben die Hölle sein.

»Weil das Protein LPL nicht richtig funktioniert«, ergänzte er wie zu sich selbst, »werden Fettmoleküle nicht abgebaut, die den Blutkreislauf verstopfen.«

»So ist es, und weißt du, weshalb die Behandlung so unverschämt teuer ist und lange dauert, abgesehen vom Preis des Medikaments?«

»Weil man Unmengen injizieren muss in der Hoffnung, dass genügend Zellen das kranke gegen das gesunde Gen austauschen. Man sollte einen Weg finden, diesen Tausch der Gene spezifischer und effizienter zu gestalten. Das ist genau das Thema meines Vortrags am Montag …«

»Eben«, warf Nick triumphierend ein.

Um den Punkt zu unterstreichen, prostete er ihm mit dem zweiten Schwenker zu.

»Jetzt hat es auch Dr. Roberts kapiert.«

»Schon, aber – meine Arbeit ist eine Forschungsarbeit. Es bleibt noch ein langer Weg bis zur klinischen Reife.«

Nick lachte. »Das lass mal meine Sorge sein. Also, kriege ich das Manuskript?«

Jamie zuckte die Achseln. »Meinetwegen, die Arbeit wird sowieso unter meinem Namen publiziert.«

Chris wischte sich heimlich eine Träne aus dem Auge, bevor das Licht den Großen Saal des Musikvereins wieder golden erstrahlen ließ. Es war weniger die Musik der Wiener Symphoniker, die sie zu Tränen rührte, als die Erinnerung an ihren verstorbenen Vater, der ihr die Liebe zur Musik vererbt und es selbst nie in dieses Haus geschafft hatte.

»Hat es dir nicht gefallen?«, fragte Jamie besorgt. »Du wirkst traurig.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe nur gerade an Papa gedacht. Schade, dass ich an kein Jenseits glaube, sonst hätte er sicher die letzten zwei Stunden mitgehört.«

»Du stellst es dir einfach vor, ohne daran zu glauben.«

Trotz der neuen Schuhe bestand sie darauf, zu Fuß ins Hotel zurückzukehren.

»Keine dreißig Minuten, wäre ja gelacht«, prahlte sie.

Sein Gesicht entsprach genau dem Gefühl in ihrem rechten großen Zeh, der sich nicht mit der eleganten Enge der High Heels abfinden wollte, die Mona ihr als Schnäppchen aufgeschwatzt hatte. Auf der Höhe der Secession, keine zehn Minuten unterwegs, setzte sie sich auf eine Treppe.

»Ich kann nicht mehr.«

Jamie hatte nichts anderes erwartet. Er nickte nur und zog das Handy hervor.

»Warte. Gib mir eine Minute.«

Sie streifte die Schuhe ab und warf ihm einen auffordernden Blick zu. Er verstand sofort. Grinsend begann er, ihren Fuß zu massieren.

»Der andere.«

Eine Gruppe junger Damen schien das außerordentlich zu amüsieren. Sie verstand kein Wort, aber die Geste war eindeutig. Die Damen streckten Jamie synchron das rechte Bein entgegen, bevor sie kichernd weiterzogen.

»Wir sollten auch besser weitergehen, sonst artet das aus«, sagte sie lachend.

Die paar Minuten bis zum Museumsquartier legte sie auf Strümpfen zurück. Das Hotel lag zwar in der Nähe, doch sie bestand auf einem Absacker. Vielleicht würde sie nach zwei, drei ›Ottakringer‹ endlich erfahren, was am Herrenabend wirklich geschehen war. Den ganzen Tag über hatte sie versucht, es ihm aus der Nase zu ziehen. Jedes Mal flüchtete er sich in medizinische Sachthemen, die er angeblich mit Nick stundenlang erörtert hatte.

Sie wusste jetzt Bescheid über das ethische Dilemma der Eingriffe in die menschlichen Gene, über die schwierige Grauzone zwischen sinnvollen Therapiezielen und verbotenen Verbesserungen am Genmaterial. Sie kannte den Unterschied zwischen somatischen und Keimbahntherapien, bei denen nicht nur die Gene der betroffenen Person verändert würden, sondern auch die des potentiellen Nachwuchses. Eingriffe in die Keimbahn waren gefährlich und verboten. Das sah sie ein, aber was zum Teufel hatten die beiden gestern getrieben? Er blieb hart. Sie würde es nie erfahren. Um ihn zu provozieren, fragte sie:

»Glaubst du, Nick könnte sich die Hände schmutzig gemacht haben mit nicht ganz koscheren Genmanipulationen? Sollte er deshalb beichten?«

Er sah sie an, als hätte sie eben die Scheidung eingereicht. Lange überlegte er sich eine Antwort, bis er endlich den Kopf schüttelte und murmelte:

»Du siehst überall nur Verbrecher, selbst im Urlaub.«

Ihr Handy kündigte neue Mail an. Kopfschüttelnd sah er ihr zu beim Lesen.

»Urlaub, Sonntag – schon vergessen?«

Sie zeigte ihm die Nachricht. »Nur Spam, siehst du?«

Er warf einen misstrauischen Blick aufs Display mit der Bemerkung:

»Ich habe irgendwo gelesen, man könne diese Dinger auch abschalten.«

Im selben Augenblick traf eine Meldung von Haase ein: Klinik Seeblick im Visier der Steuerfahndung . Sie reagierte nicht schnell genug. Er sah den Text. Seine Miene verfinsterte sich, wie sie es noch nie beobachtet hatte.

»Mir reicht‘s!«, zischte er wütend. »Kannst gerne noch weiter gegen meinen Freund ermitteln, aber allein.«

Sagte es, stand auf und verließ das Lokal ohne einen Blick zurück. Sie seufzte. Er würde jetzt etwas Zeit brauchen. Sie hatte übertrieben, nicht zum ersten Mal. Aber dieser Nick und seine Klinik …

Eine halbe Stunde verstrich, ehe sie ihm folgte. Zeit genug, um über Haases neuste, inoffizielle Ermittlungsergebnisse nachzudenken. Unsicher auf den hohen Absätzen und in Gedanken versunken, wankte sie schließlich hinaus.

Der Fahrer des Lieferwagens trat fluchend auf die Bremse und riss das Steuer herum, um der Frau auszuweichen, die offensichtlich blind über die Straße laufen wollte.

»Tussi, hirnamputierte!«, rief er ihr nach, Puls auf 180.

Ein Unfall fehlte ihm gerade noch, wo doch alles bisher rund gelaufen war. Die Ware im Baumarkt hatte offen herumgelegen. Jemand musste sich darum kümmern. Aber Kieberer wären jetzt nicht förderlich fürs Geschäft. Die sollen Parkpickerl kontrollieren und ihn gefälligst in Ruhe lassen, war sein Leitmotiv. Durch die Tussi landete sein Handy auf der Fußmatte. Jetzt spielte es jenseits der Mittelkonsole ›Mission: Impossible‹.

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