»Ein Prachtexemplar«, sagte Jamie, »aber hast du nicht schon zwei oder drei?«
Er zog sich um für den Männerabend mit seinem fast vergessenen Freund Nick.
»Dieses Teil ist speziell für einsame Stunden gedacht, melancholische Molltöne und die Bluestonleiter, wenn du verstehst, was ich meine.«
Er nahm sie in die Arme. »Ich verstehe dich sehr gut, Liebes. Noch diesen einen Abend, dann gibt es nur noch uns zwei.«
»Versprochen?«
»Bei all meinen Pfannen.«
Er würde sich noch wundern. Jedes Wort aus Nicks Mund würde sie aus ihm herausholen. Jahrelange Übung im BKA half ihr bei solchen Aktionen. Er ging. Sie stand allein im fremden Hotelzimmer vor einem leeren Abend. So durfte der Tag nicht enden. Nach kurzem Zögern rief sie Mona an.
»Lust auf einen Kaffee?«
»Langweilst du dich ohne Jamie?«
»Nein, ich will es ihm heimzahlen.«
Die Antwort sorgte für Heiterkeit am andern Ende der Leitung.
»Gut so, was die Männer können, schaffen wir auch. Ich weiß genau das Richtige für uns.«
Eine Stunde später stieg sie an der Grinzinger Schleife aus dem 38er, fast zwanzig Minuten vor der vereinbarten Zeit. Sie mischte sich unters Volk, das zum Heurigen in die Gassen strömte. Ohne Absicht schlenderte sie in eine ruhigere Gegend. Sie wollte schon umkehren, da schnellte ihr Puls schlagartig in die Höhe beim Blick in eine Nebenstraße. Mona? Die Figur stimmte, die Art, wie sie sich bewegte, nur das Kopftuch wirkte fremd. Sie glaubte, Monas Parfüm riechen zu können.
Neugierig folgte sie der Frau bis zum Friedhof. An einer Wegkreuzung unweit Gustav Mahlers Grab verlor sie sie.
»Das gibt‘s nicht«, murmelte sie verblüfft.
Der Grinzinger Friedhof war nicht gerade der Zentralfriedhof. Wahrscheinlich hatte sie sich sowieso geirrt. Auf dem Rückweg tauchte die Frau plötzlich wieder auf, als hätte sie sich hinter dem pompösen Grabmal versteckt, das einem kleinen Mausoleum glich. Chris konnte sich im letzten Moment ins Gebüsch retten. Es war Mona, die an ihr vorbei zum Ausgang eilte, kein Zweifel.
Die Inschrift auf dem weißen Marmor sagte ihr nichts. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab, als ihr ein bescheidenes Grab unmittelbar neben dem Marmortempel auffiel. Es schien zum Ensemble zu gehören, als dürfte hier der Stalljunge bei der Herrschaft ruhen. Frische Rosen schmückten dieses beinahe unsichtbare Grab. Neugierig versuchte sie, die Zeichen auf dem Grabstein zu entziffern. Sie konnte nur die Jahreszahl des Todesdatums lesen. Die Schrift mutete Arabisch an. Ein Mitglied aus Monas iranischer Familie? Nach ihrer Bemerkung zum Islam war es durchaus möglich, dass so jemand auf diesem Friedhof lag. Seltsam fand sie es trotzdem.
Fast zehn Minuten zu spät kehrte sie zum Treffpunkt zurück. Mona schloss sie freudig in die Arme und küsste sie, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.
»Ich machte mir schon große Sorgen, Chris.«
»Entschuldige, Pünktlichkeit ist nicht so mein Ding«, log sie.
Das Kopftuch war verschwunden. Die aufgekratzte, unternehmungslustige Mona vom Vorabend stand vor ihr.
»Ready? Los geht‘s! Fünf Minuten zu Fuß.«
Keine Frage, sie kannte sich aus in Grinzing. Die ›Feuerwehr‹ war ein Heuriger wie viele andere hier, nur vielleicht noch etwas populärer. Die Gäste standen jedenfalls schon am frühen Abend Schlange am Büfett. Der neue Muskateller erinnerte entfernt an den Sauvignon Blanc vom Vorabend, floss aber um einiges schneller durch die Kehle, vor allem durch Monas Kehle. Chris versuchte, mit Konversation gegenzusteuern und sie wenigstens zum Verzehr eines Weinbeißers anzuregen.
»Ihr führt also eine lukrative Klinik in Luzern«, begann sie. »Busen, Po, nehme ich an?«
Mona stellte das Glas ab. »Sehe ich aus, als hätte ich das nötig?«
»Du nicht, aber deine Patientinnen.«
Dabei betrachtete sie sich selbst mit prüfendem Blick. Mona spielte mit.
»Darf ich?«
Bevor sie begriff, was geschah, spürte sie Monas Hände auf den Brüsten. Nur für einen Augenblick, doch der genügte, um einen Schwall heißen Blutes in die Schläfen zu pumpen. Mona schüttelte nur den Kopf und stellte nüchtern fest:
»Würde ich nicht empfehlen. Die sind noch schön straff.«
»Also hör mal!«
Sie lachte hell auf. »Bleib locker, Mädchen. Auch ein Rollmops?«
Mona sprang auf, eilte ans Büfett, ohne die Antwort abzuwarten. War das ihre seltsame Art zu trauern? Versuchte sie, ihre wahren Gefühle durch exaltiertes Verhalten zu verbergen – oder wollte sie einfach ihren Fragen ausweichen?
Sie kehrte mit zwei Rollmöpsen und etwas Schwarzwurzelsalat zurück.
»Ich dachte eher an Backhendl …«
Schon stand sie wieder am Büfett. Kaum hatte sie ihr das halbe Hähnchen vorgesetzt, begann sie, den rohen Hering mit Lust zu verspeisen, als wäre er die Krönung des gestrigen Galadiners. Chris hoffte inständig, die sauren Lappen würden Monas Blutalkohol wenigstens soweit neutralisieren, dass sie ohne Rettung ins Hotel zurückfände. Allein, der Gott, der ihr stilles Gebet erhören sollte, existierte nicht. Sie bestellte noch ein Viertel. Chris konnte die Bemerkung nicht unterdrücken:
»Du tust das nicht zum ersten Mal.«
Mona sah sie mit großen, dunklen Augen an, lächelnd, mit klarem Blick, als hätte sie nur am Wasser genippt.
»Was meinst du? Eine Brust anfassen? Ich bin Ärztin.«
»Das meinte ich nicht, aber da du schon davon sprichst – ich habe immer noch nicht verstanden, was ihr da in Luzern genau treibt, du und Nick.«
»Ich habe es dir auch noch nicht erklärt«, gab sie schmunzelnd zurück. »Im Ernst, es ist ziemlich kompliziert, aber man kann es mit einem Wort umschreiben: Gentherapie. Wir helfen Patienten mit genetisch bedingten Krankheiten, gewissen Typen von Diabetes zum Beispiel.«
»Darum also das Interesse am Kongress.«
»Ja, Nick will an vorderster Front dabei sein. Er ist ein Spitzenforscher, auch wenn er sich manchmal wie ein Kindskopf aufführt.«
»Männer eben.«
»Du hast es erfasst«, lachte sie.
Die Schrammeln legten eine Pause ein. Das Reden fiel leichter.
»Glaubst du, der Vorfall im Billrothhaus könnte etwas mit eurer Klinik zu tun haben?«, fragte sie vorsichtig.
Mona zögerte lange mit der Antwort. Schließlich sagte sie abwesend:
»Die Sache geht Nick ganz schön an die Nieren.«
Chris wagte, noch einmal nachzuhaken.
»Ein enttäuschter Patient oder Verwandter vielleicht?«
Mona schüttelte entschieden den Kopf. »Patienten, die einen Kunstfehler vermuten, würden uns die Anwälte auf den Hals hetzen. Die haben gute Anwälte, das kann ich dir versichern. Unsere Therapien können sich nur die Wenigsten leisten.«
»Kann ich mir vorstellen«, murmelte sie enttäuscht.
Diese Fährte führte nirgendwohin. Daran würde auch ein weiteres Viertel Muskateller nichts ändern. Als die Musiker zurückkehrten, stand Mona auf.
»Suchen wir uns ein ruhigeres Plätzchen. Der Lärm nervt. Ich bin älter geworden.«
Sie bezahlten und verließen das Lokal.
»Ich will aber noch nicht ins Hotel zurück. Da komme ich mir vor wie ausgesetzt.«
Mona hakte sich lachend bei ihr unter. »Weiß ich doch.« Sie winkte ein Taxi herbei. »Steig ein.«
Der Fahrer, mit Anzug und Krawatte unterwegs, quittierte das Ziel mit: »Sehr wohl, Gnä‘ Frau.« So etwas erlebte man wohl nur noch in Wien.
Das Café Landtmann beim Burgtheater war eine Oase der Ruhe, trotz oder wegen der dezenten Klänge aus dem Piano. Ein alter Herr, makelloses Jackett, blütenweißes Hemd und korrekte Fliege wie am ersten Arbeitstag, trat an ihren Tisch. Auf dem Namensschild stand: Herr Karl . Statt widerwillig nach ihren Wünschen zu fragen, wie Chris befürchtete, begrüßte er Mona freudig überrascht:
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