»Frau Dr. Saatchi, schön, Sie zu sehen. Ein Verlängerter, schwarz wie immer?«
»Selbstverständlich Herr Karl«, antwortete sie, nicht im Mindesten überrascht.
»Er vergisst keinen Gast – niemals«, erklärte Mona, nachdem auch sie ihre Melange bestellt hatte.
»Nicht zu fassen. Wann bist du das letzte Mal hier gewesen?«
Sie überlegte. »Das muss mindestens zehn Jahre her sein.«
Die Atmosphäre des Wiener Kaffeehauses umhüllte und beruhigte sie wie die schützende Gebärmutter. Jedenfalls stellte Chris sich die Zeit vor der Geburt etwa so vor. Sie saßen schweigend am Marmortisch. Monas Blick driftete ab – in die Vergangenheit?
»Zehn Jahre sind eine lange Zeit«, sagte sie, um Mona in die Gegenwart zurückzuholen.
»Und doch kommt es mir vor, als hätte ich gestern hier gesessen.«
»Hast du – hattest du Familie in Wien?«
Sie hätte die Frage besser nicht gestellt. Statt zu antworten, winkte Mona ihren Herrn Karl herbei, um zu bezahlen.
»Ich bin hundemüde, muss ins Bett«, murmelte sie.
Verwirrt folgte sie ihr zum Taxi. Bevor Mona einstieg, drehte sie sich plötzlich noch einmal um.
»Nimm mich bitte in den Arm.«
Im nächsten Atemzug kuschelte sie sich an sie wie ein Küken, das im Gefieder der Mutter Schutz sucht. Dann stieg sie ohne ein weiteres Wort ein. Chris starrte dem Wagen nach, bis sich die Rücklichter auf der Ringstraße verloren.
Simmering , las Jamie auf einem Hinweisschild. Nick fuhr schweigend weiter. Fragen nach dem Ziel beantwortete er nur mit dem Grinsen, das er noch von Cambridge her kannte.
»Liegt nicht der Flughafen in dieser Richtung? Wollen wir verreisen?«
»Wir sind gleich da.«
Die Gegend weit außerhalb der Stadt machte einen eher trostlosen Eindruck. Nick parkte bei einem Hochhaus, dem einzigen weit und breit. Die laute Inschrift zog sich über die ganze Fassade des sicher fünfzig Meter hohen Turms. Jamie rümpfte die Nase.
»Ein Hotel – hätten wir das nicht schneller in Wien haben können?«
»Abwarten.«
Minuten später standen sie auf dem Dach des Gebäudes. Nick bewunderte die Aussicht.
»Na, was sagst du?«
»Was meinst du?«
»Sieh dich um.«
»Ich sehe grüne Wiesen, winzige Autos, einen Abluftschacht und ein paar Arbeiter.«
Das Grinsen mutierte zum Gelächter, einem hinterhältigen Gelächter, wie er glaubte.
»Das sind keine Arbeiter, mein lieber Jamie.«
Fünf Schritte weiter verstand er die Antwort. Er kehrte mit einem kategorischen Nein um. »Bist du verrückt? Das mache ich nicht!«
Nick stieß ihn lachend zurück. »Du hast nie bezahlt für mein Schweigen damals. Jetzt ist Zahltag.«
Jamie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich soll mich da hinunterstürzen?«
»Nicht stürzen. Wir beide laufen jetzt ganz gemütlich diese Wand hinunter. Deine Arbeiter werden uns sichern.«
»Auf keinen Fall. Du spinnst.«
Die Crew am Rand des Abgrunds beobachtete ihr Streitgespräch mit sichtlicher Ungeduld. Je mehr Gegenargumente ihm einfielen, desto stärker reizte ihn das Abenteuer. Ein Engländer blamiert sich nicht, schon gar nicht in Österreich. So etwas gehört sich einfach nicht.
Sie traten an die Dachkante. Fünfzig Meter senkrecht hinunter. Fünfzig oder fünfhundert – was macht es für einen Unterschied? , dachte er, während er spürte, wie sich sein Skelett aufzulösen begann.
»Wer zuerst?«, fragte er.
Todesangst verlieh ihm eine gewisse Autorität.
»Du natürlich.«
Dabei wechselte Nick einen verstohlenen Blick mit dem Mann am Flaschenzug, der ihm nicht entging.
»Du solltest dich jetzt besser anschnallen.«
»Vielen Dank für den Hinweis. Wäre ich allein nie drauf gekommen.«
Reden hilft, stellte er fest. Er würde sich später nicht mehr an den Blödsinn erinnern, den er auf dem Dach des Tower Hotels von sich gab. Das volle Bewusstsein erlangte er erst wieder, als er am Seil über die Kante kippte.
»Knie durchstrecken!«, mahnte der Herr über Leben und Tod. »Nicht bücken! Schön steif nach vorne kippen lassen.«
Der Mann sprach perfektes Englisch. Dennoch dauerte es ungewohnt lange, bis die Anweisungen Jamies Großhirn erreichten und die Muskeln die nötigen Befehle empfingen.
»Immer brav tun, was der Meister verlangt«, riet Nick.
Er spürte das schadenfrohe Grinsen förmlich im Nacken.
»Beine zusammen, strecken! So ist‘s gut.«
Er hing fast waagrecht über dem Abgrund, Gesicht nach unten.
»Jetzt machen wir den ersten Schritt.«
»Wir?«
Die verzweifelte Scherzfrage war nicht vom Schrei eines Bussards zu unterscheiden.
»Gut so, und nun lassen Sie das Seil ein wenig schleifen und machen einen Schritt mit dem andern Fuß.«
Er hatte verstanden. Es war im Grunde lächerlich einfach. Langsames Gehen auf rauem Beton, nur eben senkrecht nach unten statt geradeaus, wie normale Menschen sich bewegen.
Endlich im unteren Drittel angekommen, stellte er fest, schon seit Ewigkeiten keinen von Nicks bissigen Kommentaren mehr gehört zu haben. Der Boden rückte in Zeitlupe näher. Zum ersten Mal wagte er, den Kopf etwas anzuheben. Da stand sein sauberer Freund, winkte herauf und filmte weiter mit seinem Handy.
Es wirkte wie ein letzter, tödlicher Adrenalinschub. Er ließ dem Seil zu viel Spiel, stoppte dann abrupt. Die Füße lösten sich vom Beton. Frei hängend drehte er Kapriolen, bis er die Orientierung verlor. Nicks Gelächter verstummte erst, als er, losgelöst vom Seil, wütend auf ihn zu stürmte. Der Kampf ums Handy endete mit Jamies klarer Niederlage.
»Chris darf diesen Film niemals sehen!«, drohte er.
»Solang sie kein YouTube schaut …«
»Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Du wirst das Video doch nicht ins Netz gestellt haben!«
»Komm runter, Alter. Ich wüsste nicht einmal, wie das geht.«
»Was hast du überhaupt hier unten zu suchen? Los, rauf aufs Dach. Ich will deinen Sturz filmen.«
Nick blickte hinauf zum Flaschenzug knapp unter den Wolken. Dann schüttelte er den Kopf.
»Niemals würde ich diese Wand hinunterlaufen. Ich bin doch nicht verrückt.«
Auf halben Weg zurück in die Stadt hatte Jamie sich einigermaßen beruhigt.
»Aber das Scheiß Video löschst du«, verlangte er kategorisch.
»Nur wenn du mir eine Kopie deines Manuskripts lieferst.«
Die seltsame Forderung überraschte ihn.
»Du brauchst doch nur am Montag meinen Vortrag am Kongress anzuhören …«
»Das reicht mir nicht«, unterbrach Nick ungeduldig ohne jede Spur von Ironie. »Ich brauche alle Details deiner Entdeckung, inklusive Quellenangaben.«
»Die Arbeit wird in wenigen Wochen in der Fachpresse erscheinen.«
»Zu spät. Ich brauche die Information jetzt.«
»Wieso?«, fragte er verunsichert.
Nick zögerte. Er bemerkte sein Befremden und entschuldigte sich.
»Die Konkurrenz auf dem Gebiet der Gentherapie ist zwar noch überschaubar, aber gnadenlos«, erklärte er beschwichtigend. »Wenn du jetzt nicht an vorderster Front dabei bist, hast du verloren.«
Jamies Bild sah nicht annähernd so schwarz-weiß aus, doch er hatte keine Lust, sich auf diese Diskussion einzulassen.
»Ich brauche jetzt einen Cognac oder zwei«, sagte er stattdessen.
In der Weinbar pendelte sich sein Adrenalinspiegel wieder auf den Normalzustand ein. Der Beweis? Er lachte über sich selbst beim Betrachten von Nicks Video.
»Nicht zu fassen, dass ich auf den Blödsinn hereingefallen bin«, sagte er.
»Ist doch ein gutes Gefühl, gib‘s zu.«
»Als wüsstest du, wovon du sprichst.«
»Was ist jetzt mit deinem Manuskript?«
Nicks lauernder Blick sprach Bände. Er benötigte seine Forschungsergebnisse wie ein Junkie die Spritze.
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