Hansjörg Anderegg - Station 9

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Diese Waffe ist perfekt, denn um Leben zu retten, müssen sehr viele sterben.
Konzert im Musikverein, Picknick auf dem Riesenrad, so stellt sich Chris den Urlaub in Wien vor. Die Hauptkommissarin des Bundeskriminalamts begleitet ihren Mann Jamie zum Ärztekongress. Seine Entdeckung perfektioniert die CRISPR/Cas-9 Technik und ermöglicht Gentherapien für bisher unheilbare Krankheiten. Er ist der Star auf dem Kongress, doch der endet abrupt mit einem Schock, der ganz Österreich erschüttert. Chris kehrt überstürzt nach Berlin zurück. Ermittler, die internationalen Waffenschiebern auf der Spur sind, sterben an einer Krankheit, für die es keinen Namen gibt. Sie erlebt den nächsten Schock, denn sie kennt die Symptome und erahnt die bevorstehende Katastrophe – wie Jamie.

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Fesch, würden die Wiener sagen. Zum Anbeißen sah er aus, ihr Jamie im gemieteten Smoking. Da er auch am Abend des abschließenden Galadiners im Marmorsaal des Oberen Belvedere im Mittelpunkt stand, fiel es ihr leichter, die glückliche Gattin zu mimen, obwohl ihr zum Heulen war. Der Prunk der K.-u.-k.-Monarchie drückte auf die Stimmung wie die Schuhe. Dennoch strahlte sie an der Seite ihres mit einem Mal prominenten Gatten, der noch seine Mühe bekundete mit der neuen Rolle.

Mit einem erleichterten Seufzer nahm er schließlich auf dem reservierten Sessel am VIP-Tisch Platz, sie zu seiner Linken, Mona und Nick zur Rechten.

»Warum sitzen die beiden an diesem Tisch?«, wagte sie flüsternd zu fragen.

»Keine Ahnung, ich bin auch überrascht«, antwortete er ebenso leise.

Seine Lippen bewegten sich kaum dabei. Nick beantwortete die Frage, ohne sie gehört zu haben, gleich für die ganze Tafelrunde.

»Doris verspätet sich wie erwartet«, seufzte er.

»Sie hängt bestimmt am Telefon«, fügte Mona schmunzelnd an. »Ich kann mich nicht erinnern, sie ohne Handy am Ohr gesehen zu haben.«

Nick widersprach grinsend:

»Doch, beim Texten.«

Der Tisch lachte. Der Kongress tanzt , dachte Chris unwillkürlich. Jamie fühlte sich mit seinen schlechten Deutschkenntnissen etwas vernachlässigt, wie sie befriedigt feststellte. Sie benutzte die Gelegenheit, um sich wieder ein Stück weit in sein Herz zu schleichen.

»Die beiden scheinen Ministerin Strasser gut zu kennen«, bemerkte sie auf Englisch.

Sie sagte es laut genug, damit alle begriffen, dass ihr prominenter Gatte Englisch bevorzugte. Wie auf Kommando wurde fortan Englisch gesprochen am VIP-Tisch.

»Doris Strasser und ich kennen uns schon seit der Studienzeit in Wien«, erklärte Nick. Nach einem nervösen Blick auf die Uhr sagte er zu Mona: »Ich hoffe, ihr ist nichts zugestoßen.«

»Beim Telefonieren?«, war Chris versucht zu fragen, doch sie überließ Jamie das Wort.

»Gibt es denn Grund zur Beunruhigung?«, fragte er beim Buttern seines Brötchens.

Die Tischnachbarin Mona antwortete:

»Sie ist eine sehr zarte Person, du wirst schon sehen.«

»Fast zerbrechlich«, unterstrich Nick, »und doch setzt sie sich bedingungslos und ohne Zögern ein, wenn es gilt, andern zu helfen. Die Zwillinge einer befreundeten Familie haben nur dank ihr überlebt. Sie besitzen jetzt ihre Blutgruppe. Du verstehst, was ich damit sagen will.«

Jamie nickte. Ihre medizinischen Kenntnisse reichten weniger weit.

»Leukämie, Knochenmarktransplantation«, antwortete er leise auf ihren fragenden Blick.

Am Eingang entstand Bewegung. Frau Dr. Doris Strasser, österreichische Gesundheitsministerin, der Stargast des Abends, betrat den Saal – ohne Telefon. Ihre zwei männlichen Begleiter, jeder mit Knopf im Ohr und Pistole im Schulterhalfter, wie Chris vermutete, bezogen beiderseits der Tür Position. Die Ministerin, schlank wie ein Supermodel, mädchenhafte Figur, erfreute sich offenbar großer Beliebtheit unter der medizinischen Gästeschar im Saal. Das Publikum empfing sie mit einer stehenden Ovation wie eine Stardirigentin. Nach hundertfachem »Küss die Hand« und Luftküsschen konnte sie endlich am VIP-Tisch Platz nehmen. Ihr warmes, einnehmendes Lächeln steckte alle an, auch Chris. Sie konnte sich der Faszination dieser Frau genauso wenig entziehen wie die Herren am Tisch. Die Vertrautheit, mit der sie Nick und Mona begegnete, deutete darauf hin, dass sie mehr als eine Ex-Kommilitonin war.

Wie es sich für eine gewiefte Politikerin geziemte, versuchte sie, alle am Tisch gleichermaßen ins Gespräch einzubeziehen. Chris‘ pochierter Hummer am Salatbouquet war noch nicht verzehrt, als die Ministerin sie mit der Frage erschreckte:

»Sind Sie denn gar kein bisschen eifersüchtig auf den Erfolg ihres Gatten, Dr. Roberts?«

Um die Verlegenheit zu verbergen, nippte sie kurz am Grünen Veltliner aus der Wachau.

»Ich war genauso überrascht wie Sie alle«, sagte sie dann mit leicht gezwungenem Lächeln.

Die Antwort sorgte für gelöste Heiterkeit am Tisch. Wichtiger war Jamies anerkennender Blick. Der Rest des Hummers schmeckte um Klassen besser. Die Ministerin legte die Gabel weg. Das Personal begann, das Geschirr abzuräumen für den zweiten Gang, eine Gemüsekreation auf San Daniele Schinken.

Chris war abgelenkt. Sie bemerkte Doris Strassers Anfall erst, als einer der Bodyguards mit gezogener Pistole auf den Tisch zu rannte. Die zierliche Frau griff sich nach Atem ringend an den Hals. Ihr Gesicht lief blau an, als schnürte ihr jemand die Kehle zu. Die Gäste in der Nähe sprangen entsetzt auf. Nick und weitere Kollegen bemühten sich verzweifelt, ihr zu helfen, bis die Rettung eintraf. Strassers Zustand verschlechterte sich zusehends. Spastische Zuckungen und Krämpfe behinderten die Versuche des Notarztes, sie zu intubieren und mit Sauerstoff zu versorgen.

»Niemand verlässt den Saal!«, brüllte der Einsatzleiter des Kommandos, das die Kongressteilnehmer seit der Geiselnahme im Billrothhaus schützen sollte.

Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich der festliche Prunksaal in die chaotische Auffangstation einer überforderten Polizeiwache mit zweihundert Verdächtigen und einer Ministerin, die mit dem Tode rang. All die erfahrenen Mediziner konnten wie Chris nur zusehen, wie das Team des Notarztes mit der Patientin aus dem Saal stürmte.

Nick wollte ihnen folgen. Beamte der Kriminalpolizei traten ein und stießen ihn unsanft in den Saal zurück. Fluchend stand er bald wieder am VIP-Tisch. Sonst sprach niemand ein Wort. Mona, vom Schock gezeichnet, versuchte, ihn mit Gesten zu beruhigen. Chris hielt Nick im letzten Moment zurück, als er sich drohend vor der Inspektorin der Kripo aufbaute.

»Beruhige dich, sie müssen das tun.«

Wie erwartet, bestand die Befragung im Wesentlichen aus der Aufnahme der Personalien. Niemand hatte etwas Verdächtiges bemerkt, und niemand wagte mehr, einen Teller oder ein Glas anzufassen.

»Vergiftung?«, fragte sie Jamie, obwohl sie keines der typischen Symptome gesehen hatte.

Er schüttelte denn auch den Kopf, in Zeitlupe, abwesend, ungläubig auf den Schauplatz des zweiten Aktes des Dramas vom Billrothhaus blickend.

»Ein allergischer Schock vielleicht«, sagte er auf dem Rückweg ins Hotel. »Allerdings …«

Er dachte den Gedanken nicht laut zu Ende, und sie wollte nicht schon wieder als Ermittlerin auftreten. Beim Aufzug blickten sie sich schweigend an, kehrten in neuer Eintracht um und steuerten die Bar an. Der Schock saß zu tief, um jetzt einfach in den Urlaubsmodus zurückzufallen. Das ging nur mit genügend Alkohol.

Die Augen der wenigen Gäste im Halbdunkel klebten am Fernsehbildschirm. Der tragische Vorfall im Belvedere dominierte die News auf allen Kanälen, als hätten Islamisten die Reise zu ihren 72 Jungfrauen im Marmorsaal angetreten.

»Lauter!«, rief ein Gast.

Der ORF berichtete live von der eilig einberufenen Pressekonferenz. Der Zustand von Gesundheitsministerin Dr. Doris Strasser sei nach wie vor sehr kritisch, ließen die Ärzte verlauten. Man ermittle in alle Richtungen. Ein Anschlag könne nicht ausgeschlossen werden. Chris schüttelte den Kopf, während sie das Gesagte für Jamie auf Englisch zusammenfasste.

»Attempted murder, bullshit!«, blieb sein einziger Kommentar.

Sie fand die Vorstellung unter den gegebenen Umständen ebenso absurd. Die Journalisten begannen, Fragen zu stellen. Einer der Kriminalbeamten, den sie im Belvedere gesehen hatte, erhielt einen Anruf. Nach kurzem Zuhören flüsterte er dem leitenden Staatsanwalt etwas zu, worauf der die Pressekonferenz abrupt abbrach.

»Das bedeutet nichts Gutes«, flüsterte Chris wie zu sich selbst.

Jamie hängte sich ans Telefon. Er versuchte, Nick zu erreichen. Beim dritten Mal klappte es. Obwohl sie nur die Hälfte des Gesprächs mitbekam, wusste sie Bescheid, bevor er auflegte.

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