Hansjörg Anderegg - Station 9

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Diese Waffe ist perfekt, denn um Leben zu retten, müssen sehr viele sterben.
Konzert im Musikverein, Picknick auf dem Riesenrad, so stellt sich Chris den Urlaub in Wien vor. Die Hauptkommissarin des Bundeskriminalamts begleitet ihren Mann Jamie zum Ärztekongress. Seine Entdeckung perfektioniert die CRISPR/Cas-9 Technik und ermöglicht Gentherapien für bisher unheilbare Krankheiten. Er ist der Star auf dem Kongress, doch der endet abrupt mit einem Schock, der ganz Österreich erschüttert. Chris kehrt überstürzt nach Berlin zurück. Ermittler, die internationalen Waffenschiebern auf der Spur sind, sterben an einer Krankheit, für die es keinen Namen gibt. Sie erlebt den nächsten Schock, denn sie kennt die Symptome und erahnt die bevorstehende Katastrophe – wie Jamie.

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»Sie ist vor zehn Minuten verstorben«, bestätigte er.

Sie hatten Ministerin Strasser erst an diesem Abend kennengelernt, und doch schmerzte die Nachricht, als wäre eine nahe Angehörige von ihnen gegangen. Es war kalt geworden in Wien. Sie rückte näher an ihn heran. Er legte den Arm um sie, ebenso verloren.

»Weiß man schon …«

Er schüttelte den Kopf. »Sie muss obduziert werden. Nick sagt, was ich auch vermute. Die Symptome sind alles andere als eindeutig. Vergiftung schließt er aus, einen anaphylaktischen Schock ebenso. Die Muskelkrämpfe passen überhaupt nicht ins Bild. Im Moment sind wir beide ziemlich ratlos.«

»Wie kann denn so etwas geschehen?«

Er zuckte die Achseln. Nach einer Denkpause sagte er:

»Es war, als befände sie sich plötzlich im Endstadium von ALS, was natürlich vollkommener Unsinn ist – aber die Symptome würden passen.«

»ALS, die Krankheit des Stephen Hawking, nicht wahr?«

Er nickte. »Amyotrophe Lateralsklerose, eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. Wie gesagt, unmöglich, denn was wir bei Frau Strasser beobachtet haben, entspräche einer tausendfachen Beschleunigung des Krankheitsverlaufs.«

Chris erbleichte. Unmöglich oder nicht – beschleunigte ALS war genau der Ausdruck, den Haase in seinem letzten Mail verwendet hatte. Der Link vom Geiselnehmer Schröder zu Nicks Klinik Seeblick. Schröders Schwägerin war ein halbes Jahr nach der Behandlung in Luzern einer unbekannten Krankheit erlegen, die man nur mit Symptomen umschreiben konnte: beschleunigte ALS.

Ferdl sorgte sich um den Kleinen. Lorenz besaß mehr Grips als seine ganze Abschlussklasse, Ferdl Gruber inklusive. Warum wollte er nicht einsehen, etwas daraus zu machen? Der Lorenz könnte locker studieren. Jurist wäre ideal, der könnte ihn dann für ein Trinkgeld raushauen, falls ihn die Kieberer doch eines Tages erwischten. Der Lorenz könnte das. Stattdessen stand er den ganzen Tag in seinem improvisierten Atelier und bekleckerte jede erdenkliche, einigermaßen glatte Fläche. Kein Verpackungsmaterial war sicher vor seinem Pinsel und den Spraydosen. Kisten und Schachteln gab es genug, die entsorgt werden müssten nach seinen Streifzügen durch Baumärkte und unbewachte Garagen, in denen Lkws voller Flachbildschirme nur auf Leute wie ihn warteten.

»Ich schnalle nicht, was du dir von der Kleckserei versprichst, Kleiner, echt nicht«, seufzte er frustriert.

»Du sollst mich nicht Kleiner nennen. Ich bin …«

»Sechzehn, ich weiß. Das ist es ja. Du gehörst nicht in dieses Loch. Du gehörst in die Schule und dann an die Uni, verdammt noch mal.«

»Ach ja? Und wer bezahlt mein Studium? Du und deine feinen Freunde? Ihr seids doch eh die Nega.«

»Eben! Willst du unbedingt auch so enden?«

Es war hoffnungslos. Er setzte die Mütze auf und machte sich auf den Weg zur Garage. Zlatko hatte endlich einen Kunden für die Fliesen gefunden, die noch im Lieferwagen lagen.

»Wenn ich wenigstens Leinwand hätte, könnte ich vielleicht ein paar Bilder verkaufen«, rief ihm Lorenz nach.

Er stoppte abrupt, als wäre er gegen die Wand gelaufen. Auf die Idee, jemand könnte das Geschmier kaufen, wäre er im Leben nie gekommen. Aber vielleicht lag der Kleine richtig. Er machte sich jedenfalls eine Gedankennotiz: Leinwand. Leintücher würden bestimmt irgendwo in dieser großen Stadt herumliegen.

An der Abzweigung, wo der Bentley das Graffiti des Kleinen geküsst hatte, stand wieder eine Luxuskarosse, ein Maserati Quattroporte. Er hatte eben angehalten. Im Rückspiegel sah Ferdl den charakteristischen weißen Schopf über den Hosenträgern. Der Galerist war wieder da. Diesmal mit einem Ersatzwagen für den Bentley. Klar, ein Maserati musste es schon sein, mindestens. Noch etwas hatte er dabei, der nette Herr Horvath.

Ferdl trat auf die Bremse, dass die Reifen quietschten. So etwas hatte er lange nicht gesehen, schon gar nicht aus der Nähe. Eine Göttin stieg aus dem Maserati. Dunkelblonde, lange Haarsträhnen umrahmten ein Gesicht, in dem sich eine Enttäuschung spiegelte, die sie wohl erwartet, aber doch nicht erleben zu müssen, gehofft hatte. Ihre Lippen formten ein Lächeln so bittersüß, dass ein Kerl wie Ferdl sie einfach küssen musste. Was spielte es da für eine Rolle, dass sie mindestens zehn Jahre älter war? Er musste aussteigen. Es ging nicht anders.

Sie beachteten ihn erst nicht, zu beschäftigt mit dem Ablichten des Graffitis. Als er sich näherte, hörte er ihre Stimme, das reine Glockenspiel. So also tönte es bei den Göttern.

»Herr Horvath, nicht wahr?«, sagte er, die Augen auf sie gerichtet.

Der Galerist drehte sich verblüfft um. Sein Gesicht hellte sich auf. Die Wangen glühten. Er wandte sich freudig an seine Begleiterin:

»Das ist er, Elli, der Herr, dem ich diese Entdeckung zu verdanken habe.«

»Und den kaputten Bentley«, fügte sie hinzu, Ferdl misstrauisch musternd.

Horvath lachte. »Das habe ich schon selber verbockt.«

Er stellte die Göttin als Magistra Elli Popov vor, Kunsthistorikerin in den Diensten der Galerie Horvath am Theatermuseum, Sie wissen schon … Frau Magistra gab ihm ihr Kärtchen.

»Und mit wem habe ich die Ehre?«

Ferdl wähnte sich in jenem Film, der auf ein grandioses Happy End zusteuerte. Er hatte den Schluss zufällig im Fernsehen gesehen, weil er nach dem Match vergessen hatte, die Kiste abzuschalten und vorübergehend eingepennt war. Auf das Happy End wartend, vergaß er zu antworten.

»Stimmt«, rief Horvath aus. »Ich war an dem Abend so verwirrt, habe ganz vergessen, den Herrn nach seinem Namen zu fragen.«

»Gruber, Ferdl Gruber«, antwortete er abwesend.

Diese Augen waren tiefer als der Ozean. Wie viele arme Kerle da wohl schon eingetaucht und nie mehr gesehen worden waren? Er musste der Nächste sein, unbedingt. Freudig und mit offenen Augen würde er sich ins Verderben stürzen.

»Also, Herr Gruber, Sie wohnen doch in der Gegend«, vermutete sie, »und Sie wissen wirklich nicht, wer dieses Meisterwerk geschaffen hat?«

Was waren Horvaths Worte? Der Künstler sei ein Genie. Lorenz hatte ein Meisterwerk geschaffen. Diesmal kam das Lob aus dem Mund der Kunsthistorikerin, die es wissen musste. Er war sonst nicht der Schnellste, wenn es um wichtige Entscheidungen im Leben ging, aber angesichts dieser göttlichen Übermacht rückte er mit der Wahrheit heraus, der ganzen Wahrheit und nichts als der Wahrheit.

»Ihnen kann ich es ja verraten«, sagte er. »Sie sind vom Fach.«

Damit meinte er sie und nur sie. Das Misstrauen in ihrem Gesicht wich einem erfreuten Lächeln.

»Sie kennen also den Künstler?«

Er nickte. »Sehr gut sogar. Er ist mein Bruder, Lorenz Gruber.«

Schon war das Misstrauen wieder da. Ferdl beeilte sich, die Behauptung zu belegen, indem er von den zahlreichen Entwürfen erzählte, die zu Hause im Atelier herumlagen. Horvath und Elli brauchten sich nur kurz anzusehen, um sich zu verständigen. Sie nickte, er fragte:

»Herr Gruber, wäre es allzu vermessen, den Meister Lorenz kennenlernen zu wollen?«

»Also – Meister würde ich ihn nicht unbedingt nennen. Er ist sechzehn.«

»Dann wird der Herr Lorenz wohl jetzt in der Schule sein«, vermutete Elli.

»Leider nicht, Gnä‘ Frau. Er beschäftigt sich halt lieber mit Pinsel und Spraydose als mit Schreibstift und gescheiten Büchern.«

»Wann würde den Herren denn ein Besuch konvenieren?«, fragte Horvath.

Aus Verlegenheit sah Ferdl lange auf seine Uhr, dann in die göttlichen Augen. Schließlich antwortete er, wieder seriöser Geschäftsmann:

»Ich habe noch ein paar dringende Lieferungen zu besorgen, aber ich denke, heute Abend nach sechs ließe sich das einrichten.«

Die beiden sahen ihn schweigend wartend an, bis Elli wieder ihr bittersüßes Lächeln aufsetzte.

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