So aber wurde ich erst recht eine Gefangene meiner Gedanken und Gefühlswelt. Dass dies alles andere als gesund war, das wusste ich jedoch nicht. Ich ging vielmehr davon aus, dass das Leben einfach nur anstrengend und beschwerlich ist. Dass es nur sehr wenig Freudvolles gibt. Und dass es für Menschen wie mich nicht wirklich etwas zu lachen gibt. Für mich gab es neben den Kategorien „reich und arm“, sowie „begabt und unbegabt“ noch eine weitere Kategorie Mensch. Die „vom Glück Geküssten“. Zu dieser Gruppe gehörte mein Bruder. Zumindest meiner Meinung nach. Und das Pendant dazu in der „Gruppe der Verlierer“ spielte ich, da ich mich vom Wohlwollen Gottes als weniger beschenkt sah. Meine religiöse Erziehung lehrte mich, dass Gott unser „oberster Richter“ ist und dass diesem Gott auch nicht das kleinste Fehlverhalten entging. Doch was habe ich irgendwann einmal getan, dass dieser Gott mich anscheinend nicht so liebte wie meinen Bruder? – Hätte er mir sonst nicht auch ein Mehr an Intelligenz und Begabung gegeben? – Was bitte sind die Fähigkeiten, auf die ich als Mädchen/Frau zuversichtlich schauen kann? – Was sind die Fähigkeiten, die ich aus mir selbst heraus entwickeln kann? – Ich wusste es einfach nicht. Ich sah diese Fähigkeiten nicht. Und es fehlte mir ein Gegenüber, das mir half, dieses Potential, das in mir ruhte, Schritt für Schritt zu entwickeln. – Stattdessen spürte ich immer und immer wieder nur diesen unendlich tiefen Seelenschmerz. Fühlte mich weder gesehen, noch verstanden, sondern einfach nur überfordert mit all den Gedanken, mit all den Gefühlen, mit all den Hormonen. Überfordert mit mir und der Welt. Das Schlimmste jedoch war, dass ich über all dies nicht sprechen konnte. Mir war, als hätte mir jemand meinen Mund zugeklebt, versiegelt. Als hätte mir jemand gesagt: „Du bist sehr, sehr undankbar. Solche Dinge sagt man nicht. Solche Dinge denkt man nicht. Solche Dinge fühlt man nicht.“
Was für eine verrückte Welt, was für eine innere Zerrissenheit, in der ich lebte. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen dem Guten und dem Bösen. Zwischen Himmel und Hölle. Mal war ich unten, mal war ich oben. Es war ein ständiges Kräftemessen. Und sobald ich mich entschied in meinem Denken, Handeln und Sein nur noch die „Gute“ sein zu wollen, konnte ich fast schon darauf wetten, dass sich mir im Außen wieder eine Situation zeigte, die ich zu bewältigen hatte. Und schon meldete sich ungefragt und unerwünscht erneut das „Böse“ in mir in Form meiner Gedanken und Gefühle, obwohl ich doch beschlossen hatte sie zu besiegen. Doch so einfach, wie ich mir das dachte, war dies nicht. Ganz im Gegenteil. Und da ich aufgrund meiner Harmoniesucht und der ewigen Suche nach Anerkennung und Liebe eine panische Angst vor Sanktionen und Ablehnung hatte, lebte ich die ganze „Frust-Energie“ nicht nach außen hin, sondern gewöhnte mir stattdessen ein ziemlich ungesundes Verhalten an, indem ich die ganze zerstörerische Energie gegen mich selbst richtete. Nach außen hin vermied ich es jedoch, meine negativen Gefühle zu zeigen. Stattdessen versteckte ich mich in meinem Schneckenhaus und redete mir dort ein: „Hier kann mich keiner finden. Hier kann mich keiner sehen.“ So richtete ich mir nach und nach mein Leben in einer Art von Rückzug, innerer Rebellion und partieller Wut ein. Was mir aber nicht klar war, war, wie viel Lebensfreude und Lebenskraft ich dadurch verlor. Heute erst weiß ich, dass ich mir mit der Kraft meiner Gedanken diese ganzen Situationen selbst erschaffen hatte. Egal ob in der Schule oder in der Familie. Mit so viel Zerrissenheit und negativer Energie, die ich in mir trug, vermochte ich es weder mich meinem Leben ganz hinzugeben, noch mit den Menschen vertraut zu werden, nach deren Liebe ich mich so sehr sehnte. Wer mir dabei am meisten fehlte, war meine Mutter. Und da ich stets auf der Suche nach dieser Liebe war, konnte ich mich auch nicht wirklich von ihr abnabeln und trennen. Stattdessen habe ich die Erfahrung gemacht: Wenn du derart nach Liebe suchst, dann bleibst du ewig das Kind, das dürstet und hungrig ist. Dann kannst du nicht wirklich erwachsen werden. Dann bleibst du selbst als erwachsene Frau in diesem „hungrigen Kind-Bewusstsein“ stecken. Und jedes Mal, wenn du dieser Mutter begegnest, dann suchst du und suchst und suchst. Du kannst dieses Angenommen-Sein, diese Wertschätzung, sowie das Geliebt-Werden auch bei deinem Partner/deiner Partnerin, deinen Freunden, Arbeitskollegen suchen, doch du wirst es vergeblich suchen. Du bleibst so lange hungrig und bedürftig, bis du eines Tages beschließt, dir selbst beste Mutter, bester Vater, bester Partner/beste Partnerin, bester Freund/beste Freundin zu werden. Bis du dich mit der Vergangenheit ausgesöhnt hast und beginnst, dich selbst liebevoll um dich und deine wahren Bedürfnisse zu kümmern. Bis du die Liebe und alles, was dazu gehört, dir selbst zu geben vermagst. Immer und immer wieder. Letztlich so lange, bis du dich wohl-genährt und gesättigt fühlst.
So suchte ich als Teenager und junge Frau oft sehr verzweifelt meinen Weg. Und da ich mit so viel Frust, den ich in mir trug, davon überzeugt war, auch in Gott keine wirkliche Hilfe und Unterstützung zu finden, tat ich das, was ein verletztes Kind tut, wenn es sich vernachlässigt und ungeliebt fühlt, ich wandte mich immer mehr von ihm und „Mutter Kirche“ ab, weil ich so sehr mit meinem Schmerz beschäftigt war. Letztlich wurde ich so immer mehr zu einer Gefangenen in mir selbst. Mit meiner kindlichen Wut, meinen Gedanken und nicht gelebten Gefühlen hatte ich mir selbst Fesseln angelegt. Und diese Fesseln trugen sogar Namen. Sie hießen Schuld und Scham. So hatte ich mir mein eigenes Drama, das Drama eines scheinbar weniger begabten und ungeliebten Kindes kreiert. Und dies lebte ich sowohl zuhause als auch in der Schule. – Soweit zu meiner Biografie.
Als ich anfing, darüber nachzudenken und zu schreiben, zeigten sich mir noch einmal der ganze alte Schmerz sowie die Gefühle von Schuld und Scham. Oft war mir, als wollte mein Herz zerspringen, doch inzwischen hält es dem Schmerz dieser Geschichten tapfer stand. Es gibt zwar noch Tage, an denen die Tränen mal wieder fließen. Doch dann halte ich inne und sage mir: „Wie interessant! – Heute ist also mal wieder so ein Tag.“
Johann Wolfgang von Goethes Faust zitierend kann ich sagen: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, denn auch Goethes melancholischer Doktor Faust fühlt sich zerrissen zwischen den Mächten seiner Innenwelt. Auch in ihm wirken diese gegensätzlichen Kräfte und fordern ihn heraus, sich für eine dieser Mächte zu entscheiden, womit letztlich dann auch sein „Reigen im Tanz des Lebens“ beginnt, der nicht nur ihn zu Fall bringt, sondern auch die Person, die er aus ganzem Herzen liebt. Ist das nicht verrückt? Es ist dieses ewig währende „Spiel“, diese Kraft-, Mut- und Zerreißprobe zwischen den hellen und dunklen Mächten in uns. Das Prinzip der Dualität. Das Geistige Gesetz von Ursache und Wirkung, das hier zum Tragen kommt. Diese Kräfte gehören zu uns, so lange wir leben. Sie wirken mehr oder weniger bewusst und unbewusst in uns. Sie formen und prägen unser Menschsein und stellen uns letztlich vor die Frage, wie wir unser Leben mit diesen Kräften bewusster gestalten können. Das Problem ist nur: Solange wir diese widerstrebenden Kräfte in uns als gut und schlecht beurteilen, solange wir sie als positiv und negativ bewerten, wird sich die von uns als negativ definierte Kraft immer und immer wieder melden. Sie kämpft und ringt mit uns um ihre Daseinsberechtigung. Und solange wir sie ablehnen und versuchen sie zu negieren, erzeugt sie in uns eine innere Spannung, die sich so lange immer und immer wieder mit den verschiedensten Lernsituationen zu Wort melden wird, bis wir diesen Aspekt in uns nicht mehr länger leugnen und ablehnen, sondern ihn uns bewusst machen und integrieren. Erst durch die Annahme, die Integration, erst durch die Akzeptanz all der Schatten-Anteile in uns, ziehen sich diese „Dämonen“ nach und nach langsam zurück. Sie verlieren an Kraft, an Vehemenz. – Lehnen wir sie hingegen ab, werden sie größer und mächtiger, blähen sich auf. Versuchen uns zu bestimmen. Fordern uns heraus und ringen mit uns. Werden sie hingegen bewusst wahrgenommen und gefühlt, bzw. fragen wir sie gar nach ihrer Botschaft für uns, fühlen sie sich gesehen und wertgeschätzt. Dann beruhigen sie sich. Sie werden verständlicher und zahmer. Sie zeigen sich verhaltener. Sie kämpfen nicht länger um ihre Vorherrschaft in uns. Und so wie sie sich beruhigen, löst sich dann auch diese gewaltige Spannung in uns auf, und wir finden wieder leichter zurück in unser Gleichgewicht. In einen Zustand von innerer Ausgeglichenheit und Balance. Indem wir uns für alle Aspekte in uns öffnen, werden wir gelassener, geduldiger, mitfühlender, bewusster und weiser. Wir erkennen: Dies alles macht unser Menschsein aus. Dies alles gehört zu uns. Und was das Schönste von all dem ist: Wir lehnen uns selbst nicht mehr länger ab, sondern finden endlich den erwünschten Frieden in uns. Werden ausgeglichener, entspannter, großzügiger gegenüber unserer eigenen Wesensart, aber auch toleranter, mitfühlender, respektvoller und wertschätzender gegenüber anderen Menschen. Wir öffnen uns für alles, was ist, und erkennen, dass es sich nicht lohnt irgendetwas abzulehnen. Wir öffnen uns für das Dunkle ebenso wie für das Helle. Für den Schatten und das Licht. Für Angst und Liebe. Für Traurigkeit und Freude. Wir erkennen, dass alle Gefühle wertvoll sind, dass sie uns je nach Situation etwas ganz Bestimmtes lehren wollen, dass sie gelebt sein wollen, dass sie uns und unserer persönlichen Weiterentwicklung dienen. Sie zeigen uns all die verschiedenen Qualitäten, die Anteile, die Aspekte unseres Seins. Wir schließen sie aber nicht mehr aus, sondern wir umarmen sie.
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