II. Problemfelder aus dem Zeitraum vor Insolvenzantragstellung bzw. vor Anordnung von Sicherungsmaßnahmen
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Der Zeitraum vor Insolvenzantragstellung bzw. vor Anordnung von Sicherungsmaßnahmen bedarf der sorgfältigen Beachtung durch den Insolvenzverwalter.
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Die Insolvenzantragstellung selbst führt nicht zu Einschränkungen in der Handlungsfähigkeit des Schuldners bzw. seiner Organe. Gleichwohl ist der Eingang des Insolvenzantrags beim Insolvenzgericht keinesfalls unbeachtlich, da eine Reihe von Insolvenzanfechtungstatbeständen, §§ 129ff. InsO, an die Insolvenzantragstellung anknüpft. Dies betrifft die Anfechtung kongruenter Deckungen gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO, die Anfechtung inkongruenter Deckungen gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO, die Anfechtung unmittelbar nachteiliger Rechtshandlungen gemäß § 133 Abs. 1 Nr. 2 InsO, die Vorsatzanfechtung gemäß § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO sowie die Anfechtung im Zusammenhang mit Gesellschafterdarlehen gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 InsO.
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Verfügungsbeschränkungen treten durch die Insolvenzantragstellung nicht ein.
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Maßgeblich ist der Eingang des Insolvenzantrags beim Insolvenzgericht. Auf den Eingang beim Amtsgericht kommt es nicht an.31
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In steuerverfahrensrechtlicher Hinsicht hat die Stellung eines Insolvenzantrags keine Bedeutung. Auch die Bestellung eines Gutachters durch das Insolvenzgericht ist unbeachtlich. Maßgebliche Rechtsfolgen ergeben sich erst dann, wenn das Insolvenzgericht Sicherungsmaßnahmen anordnet, insbesondere einen sog. „starken“ oder „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt.
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Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, die rückständigen Steuererklärungen, auch aus der Zeit vor Insolvenzantragstellung bzw. Eröffnung des Insolvenzverfahrens anzufertigen und einzureichen. Die Regelung des § 155 Abs. 1 Satz 2 InsO betrifft auch die vom Schuldner bislang nicht erfüllten Verpflichtungen. Da der Insolvenzverwalter nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 148 Abs. 1 InsO das gesamte zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen sofort in Besitz und Verwaltung zu nehmen hat (§ 148 Abs. 1 InsO), hat er auch die der Rechnungslegung dienenden Unterlagen des Schuldners gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 1 InsO, nachdem die besondere Verwertungsvorschrift des § 117 Abs. 2 KO weggefallen ist, in Besitz zu nehmen.32
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Dem Schuldner ist die Erfüllung der handels- und steuerrechtlichen Rechnungslegungspflichten nach Inbesitznahme der Geschäftsbücher durch den Insolvenzverwalter nicht mehr möglich, sodass es konsequent ist, diese Aufgabe dem Insolvenzverwalter zu übertragen.33
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Handelt es sich bei der Schuldnerin um eine Personenhandelsgesellschaft, so können die Gesellschafter vom Insolvenzverwalter über das Vermögen der Gesellschaft die Vorlage steuerlicher Jahresabschlüsse für die Insolvenzmasse verlangen. Entstehen der Insolvenzmasse dadurch Kosten, die sie allein in fremdem Interesse aufwenden muss, kann der Insolvenzverwalter hierfür von den Gesellschaftern Ersatz und einen entsprechenden Auslagenvorschuss fordern.34
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Der Insolvenzverwalter ist verpflichtet, die bislang nicht aufgestellten Jahresabschlüsse aus der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufzustellen; ihm obliegt auch die Feststellungskompetenz für die von ihm aufgestellten Jahresabschlüsse.35
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Stellt der Insolvenzverwalter fest, dass die vom Schuldner bzw. seinen Organen aufgestellten Jahresabschlüsse hinsichtlich der Zeiträume vor Verfahrenseröffnung Mängel aufweisen, z.B. weil der Schuldner in der Krise die Aktiva zu „optimistisch“ bewertet hat, um dadurch die Überschuldung zu verschleiern oder wertlose Forderungen, die wertmäßig abzuschreiben gewesen wären, weiterhin aktiviert, so sollte der Insolvenzverwalter prüfen, ob die fehlerhaften Jahresabschlüsse zu verwerfen und richtige Jahresabschlüsse aufzustellen sind.36
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Der Insolvenzverwalter ist für Mängel der Buchführung aus der Zeit vor Insolvenzeröffnung dem Schuldner gegenüber nicht verantwortlich, wenn diese Mängel nach Insolvenzeröffnung nicht mehr korrigiert werden können. Der Insolvenzverwalter muss sich im Rahmen des ihm Zumutbaren aber darum bemühen, eine mangelhafte Buchführung „in Ordnung“ zu bringen.
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Inhalt und Umfang der Pflichten, die der Insolvenzverwalter hat, hängen von den konkreten Umständen, insbesondere von Art und Umfang der Mängel der Buchführung ab. Auch die Belastbarkeit der Masse mit den Kosten solcher Arbeiten, mag sie auch für die Pflichtenstellung des Insolvenzverwalters gegenüber den Finanzbehörden unbeachtlich sein, kann für die Verantwortlichkeit gegenüber dem Schuldner eine Rolle spielen. Der Insolvenzverwalter hat unter Umständen wegen weiterer Klärung mit dem Schuldner Verbindung aufzunehmen; der Insolvenzverwalter kann auch gehalten sein, sich mit der Finanzbehörde zwecks Erleichterungen von den Buchführungspflichten ins Benehmen zu setzen.37
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Gemäß § 256 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG ist ein festgestellter Jahresabschluss, außer in den Fällen der §§ 173 Abs. 3, 234 Abs. 3 und 235 Abs. 2 AktG, nichtig, wenn er durch seinen Inhalt Vorschriften verletzt, die ausschließlich oder überwiegend zum Schutz der Gläubiger der Gesellschaft gegeben sind. Aufgrund der Nichtigkeit eines Jahresabschlusses kann der Insolvenzverwalter Zahlungen, die auf der Basis der Jahresabschlüsse geleistet worden sind, insbesondere an Gesellschafter, zurückfordern und damit die Masse mehren.38
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Den Insolvenzverwalter treffen mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens alle Pflichten, die dem Schuldner oblägen, wenn über sein Vermögen nicht das Insolvenzverfahren eröffnet worden wäre. Dazu gehört auch die Steuererklärungspflicht gemäß § 149 Abs. 1 AO und, wenn der Schuldner eine gewerbesteuerpflichtige Personengesellschaft ist, die Verpflichtung zur Buchführung und Bilanzierung. Dies gilt auch für Steuerabschnitte, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegen.39
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Die Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Abgabe von Steuererklärungen ist unabhängig davon, ob die dafür erforderlichen Kosten – bei Beauftragung eines Steuerberaters – durch die Insolvenzmasse gedeckt sind. Ebenso wie der Steuerpflichtige selbst kann der Insolvenzverwalter die Erfüllung der Abgabepflichten von Steuererklärungen nicht mit dem Argument zurückweisen, es seien keine hinreichenden finanziellen Mittel vorhanden. Der Insolvenzverwalter hat die ihm auferlegten Pflichten gegenüber der Finanzbehörde im übergeordneten öffentlichen Interesse zu erfüllen. Die Steuererklärungspflicht dient der ordnungsgemäßen Abwicklung des Besteuerungsverfahrens und nicht nur dem fiskalischen Interesse der Finanzverwaltung als Insolvenzgläubiger. Dabei soll nach Auffassung des BFH auch berücksichtigt werden, dass zu Insolvenzverwaltern in der Regel Personen bestellt werden, die aufgrund ihrer Ausbildung oder beruflichen Erfahrung zu dieser Vermögensverwaltung, zu der auch die Abgabe von Steuererklärungen für den Gemeinschuldner gehört, besonders qualifiziert sind. Dem kann der Insolvenzverwalter nicht entgegenhalten, dass er für die damit verbundene Arbeit kein angemessenes Entgelt zu erwarten habe.40
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Der BFH hat offengelassen, ob es für einen Rechtsanwalt als Insolvenzverwalter auch dann zumutbar ist, die Steuererklärungen des Gemeinschuldners selbst zu erstellen, wenn dies mit umfangreichen Buchführungs- und Abschlussarbeiten verbunden ist und die Kosten für die Beauftragung eines Steuerfachmannes aus der Insolvenzmasse nicht gedeckt werden können.41
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Der Insolvenzverwalter muss sich nach der Rechtsprechung des BGH im Rahmen des ihm Zumutbaren auch um die Vervollständigung einer der bei Insolvenzeröffnung mangelhaften Buchführung bemühen, wenn diese mit Blick auf die steuerlichen Anforderungen noch in Ordnung gebracht werden kann.42
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