Ungewohnt schrilles Klingeln riss Nora aus ihren Bildern heraus.
Sie nahm den Hörer des Telefons ab und stellte sich vor: „LKA 41, Vermisstenabteilung, Kardinal.“
„Hier ist Max aus München. Nora, ich wollte hören, ob du gut angekommen bist?“
Noch wehmütig, aber auch aufgeregt, berichtete sie ihrem ehemaligen VE-Führer aus München von ihrem ersten, langen Tag in Hamburg und auch darüber, dass sie glaubte, ihre Schwester in einer Akte entdeckt zu haben.
„Stell dir vor, sie taucht hier als Anzeigende auf, in einer Vermisstensache, die ich mir zufällig gegriffen habe.“
„Es gibt keine Zufälle“, bemerkte Max und machte einen tiefen Atemzug. „Ich vermisse dich, Nora.“
Kaum ausgesprochen, bereute Siebert es bereits. Schließlich wollte er ihr das Einleben in Hamburg nicht noch schwerer machen und hatte sich fest vorgenommen, nichts zu sagen, was sie traurig machen könnte. Als er jedoch ihre Stimme gehört hatte, konnte er nicht anders und musste diesem Impuls nachgeben. Aber so war es nun. Nora musste nach Hamburg zurückkehren, weil sie die Ermittlung eines mutmaßlichen Terroristen vereitelt hatte und enttarnt worden war. Und nun hatte er in erster Linie eine Instruktion zu befolgen.
„Nora, ich muss hier für dich noch ein paar Formalitäten regeln, könnte dich dann aber besuchen kommen.“
Nora schwieg und hing ihren Gedanken nach.
„Wirst du wieder in diesen Jazzclub gehen, in dem du früher auch schon Musik gemacht hast? Wie hieß der noch, ,Birdland‘ oder so?“, fragte er.
„Am Wochenende ist Vocalsession, da werde ich wohl hingehen. Wieso? Willst du kommen?“
Sie war irritiert über das Interesse.
„Nein, nein, das werde ich wohl nicht schaffen“, lachte Siebert, während er auf das Display seines Handys tippte.
„Birdland“, Wochenende, Nora.
Er drückte auf Senden, und zwei graue Haken quittierten die Ankunft seiner Nachricht.
Ob er das Richtige tat, wusste er nicht, aber er war verpflichtet, an der Aufklärung mitzuwirken, so unwohl er sich dabei auch fühlen mochte.
„Verzeih, Max, ich bin durcheinander …“
Ihre Stimme kippte leicht, und es war still. Gefasst sprach sie weiter. „Ich habe schon seit ewiger Zeit keinen Kontakt mehr zu meiner Schwester Lotta.“
Während Nora im Vertrauen von ihrer Beziehung zu Lotta erzählte, nahm Siebert sein Handy und sah im Display, dass der Empfänger seine Nachricht bereits gelesen hatte. Horst Röpke antwortete:
OK. Kümmere mich.
„Irgendwie hatte ich mich damit abgefunden“, sprach Nora weiter, und ihre Stimme begann sich zu überschlagen. „Und nun finde ich sie auf diese Weise wieder. Das ist Fügung. Ich werde sie anrufen und fragen, wie es ihr geht, was sie macht und … “
Nora freute sich zwar über ihre wiedergefundene Schwester, fühlte sich aber zugleich unbehaglich. Wie würde Lotta auf ihre Begegnung reagieren?
Jäh fiel ihr ein, dass die Vermisstensache eilig war, und sie beendete das Telefonat.
„Max, ich melde mich bei dir, ich muss jetzt auflegen und Lotta und die vermisste Frau suchen, pfiat di.“
Nora stürmte aus ihrem Büro und suchte einen ihrer Kollegen im Nachbarzimmer auf, bei dem sie sich erkundigte, welcher Ermittlungsrichter für Vermisstensachen zuständig sei.
„Geht nach Anfangsbuchstabe“, erläuterte Kriminaloberkommissar Pieter Struck, auf dessen Schreibtisch einige Polizei-Playmobilfiguren aufgereiht waren und der selbst ein wenig skurril wirkte. Ganz am Rand der Sammlung stand ein Pastor mit weißem Kragen, langem schwarzen Gewand und einem goldfarbenen Kelch mit einem Kreuz. Pieter Strucks größter Stolz war allerdings eine GSG-9-Figur, Elite Force BBI, deren Hand etwas dynamischer wirkte als die sonst üblichen halb runden starren Sichelhände. Nora betrachtete den Pastor und nahm sich vor, ihren Kollegen bei Gelegenheit zu fragen, ob er gläubig sei oder der Pastor es nur wegen seiner Sammelleidenschaft in die Ruhmeshalle der Plastikfiguren geschafft hatte.
„Hey, Pieter, könntest du mir helfen, habe das bisher noch nicht gemacht.“
Gleichzeitig griff sich Nora eine Polizeifigur mit khakifarbener Hose und strich mit ihrem Daumen über die grüne Plastikjacke mit den aufgemalten Taschen. Die Hände erinnerten sie an die Ersatzhand von Käpt’n Hook, nur eben ohne Haken. Während Nora den kleinen, ergrauten Polizisten mit der Prinz-Eisenherz-Frisur und dem grauen Schnurrbart betrachtete, fiel ihr auf, dass Pieter Struck viel Ähnlichkeit mit dem älteren Herrn aus Plastik hatte.
Freundlich schaute er Nora durch seine silberfarbene Brille an. „Frag den Richter, was er an Infos benötigt, Telefonnummer findest du im Outlook.“
***
Das Klingeln des Telefons riss Ermittlungsrichter Markus Hirsch aus seinem Aktenstudium.
„Hirsch“, hörte Nora am anderen Ende der Leitung.
„Guten Tag, Herr Hirsch, Nora Kardinal, vom LKA 41. Wir haben eine vermisste Person, und ich benötige eine Handyortung für sie. Die Sache ist wirklich sehr eilbedürftig, da die Person schon seit Sonntagabend vermisst wird und die Akkukapazität des angeschalteten Handys sich immer weiter verringert!“, erläuterte Nora ihr Anliegen und beantwortete noch einige seiner Fragen, bis sie ihn endlich sagen hörte: „Ich benötige einen schriftlichen Antrag mit Begründung. Wann können Sie den faxen?“
„In einer halben Stunde haben Sie alles, vielen Dank“, beendete Nora das Telefonat.
Eine Stunde später hatte sie die richterliche Anordnung und ließ über die Technische Abteilung des LKA mittels einer sogenannten „Stillen SMS“ oder „Stealth Ping“ das Handy der Vermissten orten.
Es klingelte, und während Nora den Telefonhörer aufnahm, setzte sie sich seitlich auf den Tisch. Pieter Struck beobachtete ihr Mienenspiel, während sie zuhörte. Nachdem sie aufgelegt hatte, sprang sie auf und ging zu ihrem Bürostuhl. „Hey, wir haben Glück. Wir haben ein Signal, obwohl das Handy schon seit Sonntagabend durchgehend in Betrieb ist“, rief sie ihrem Kollegen über die gegeneinander aufgestellten Schreibtische zu.
„Zuletzt hat es sich in der Funkzelle in der Borsigstraße eingeloggt.“
„Dort ist eine Müllverbrennungsanlage“, bemerkte Pieter, der dort vor Kurzem einen Einsatz gehabt hatte und sich nur zu gut an den Straßennamen erinnern konnte, da seine Lieblingslehrerin in der Grundschule Borsig hieß. Wenn man es genau nahm, war er als kleiner Bub in seine hübsche, junge Lehrerin verliebt, aber das war eine andere Geschichte.
„Okay, worauf warten wir?“
„Muss noch mein Butterbrot aufessen“, entgegnete Pieter kauend.
„Häh?“
Missbilligend und ohne jedes Verständnis blickte Nora ihn an. Sie wollte gerade zu einem Vortrag über effiziente und schnelle Polizeiarbeit ansetzen, da kam ihr Pieter zuvor.
„Mann, das war ein Spaß!“, stieß er belustigt, aber auch irritiert darüber aus, dass sie tatsächlich geglaubt hatte, er wolle jetzt weiteressen. Sie musste ihn eben noch besser kennenlernen. Er legte sein Brot zurück in die Tupperdose, wischte sich seine fettigen Hände an den Hosenbeinen ab und folgte Nora zum Parkplatz des Präsidiums.
Während sie mit Blaulicht zum Zielort fuhren, klappte Nora den Laptop auf, um das Signal des Handys verfolgen zu können. Gleichzeitig rief sie bei der Müllverbrennungsanlage an, kündigte ihr Kommen an und ordnete gegenüber dem Leiter der Schicht an, die Arbeiten sofort einzustellen. Sie beschlich ein ungutes Gefühl. Würden sie dort nur ein weggeworfenes Handy finden oder mehr?
„Fahr schneller“, herrschte sie Pieter an. Sie war noch sauer über seinen Spaß, den er sich mit ihr erlaubt und den sie nicht verstanden hatte.
Als sie eilig das Werksgelände und den Müllbunker betraten, war Nora von dem Anblick, dem Lärm und vor allem dem Gestank der Müllverbrennungsanlage wie erschlagen. Sie standen in einer riesigen Halle, und die grauen Wände des tiefen Betonraums wirkten wie das Parkdeck der Imperialen Raumflotte „Millennium Falcon“ von „Star Wars“. Das Quietschen des Greifarms, der sich in den bunten Müll bohrte, riss Nora aus ihrer Starre. Aus der in dem Greifarm eingequetschten Müllmasse löste sich eine PET-Flasche und fiel in die Tiefe, während die Schaufel direkt auf den Verbrennungsofen zuhielt. Nora wurde übel. Nicht nur von dem beißenden Gestank, sondern auch von der Tatsache, dass die Schaufel sich genau an der Stelle in den Müllberg eingegraben hatte, an der ihr das Laptop ein Signal anzeigte. Sie fuhr den Schichtleiter an: „Maschinen aus, sofort! Sagen Sie mal, was genau verstehen Sie nicht, wenn ich Sie auffordere, die Arbeiten einzustellen?“ Nora bellte unbeherrscht in den Hörer und vergaß dabei den Lärm und den Gestank, der sich langsam in ihren Klamotten festsetzte.
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