Siebert stand auf und stellte sich neben den Mann.
„War sie das?“, fragte der Mann Siebert und leckte sich mit der Zunge die Crema von der Oberlippe.
„Ja.“
„Max, ich setze in Hamburg meinen besten Mann auf sie an. Schick mir bitte Personalbogen und Liste ihrer Vorlieben und Besonderheiten.“
Mit diesen Worten beendete Horst Röpke das kurze Treffen.
Als am Nachmittag des gleichen Tages Noras Telefon klingelte, lag sie mit Isa auf dem Sofa und nahm erstarrt die Anordnung von Max Siebert entgegen, dass sie bereits am nächsten Tag nach Hamburg zurückkehren müsse. In der Abteilung für vermisste Personen sollte sie anfangen, die der Abteilung für Kapitalverbrechen angegliedert war.
„Ich kümmere mich um die Formalien und deine Wohnung hier in München. In Hamburg kommst du vorläufig in einer Dienstwohnung unter.“
Die vielen Informationen prasselten auf sie ein.
„Nora, ich kann dich nur schützen, wenn du auf mich hörst und sofort das Nötigste packst. Heute Abend geht dein Zug.“
„Du denkst an meinen Hund, den muss ich doch mitnehmen?“, fragte sie mit letzter Kraft.
„Ja, mach dir keine Sorgen“, beruhigte er sie. Sie hörte zwar Max’ sanfte Stimme, aber nicht, was er sagte. Ihre Gedanken schweiften ab. Was sollte sie in Hamburg, was in dieser unsäglichen Abteilung? Es war ihr jetzt schon zuwider.
Kapitel 3
Montag 7.12.2015
Parlamentarischer Untersuchungsausschuss Hamburg
Gernot Melzer war sich seiner Rehabilitierung sicher. Endlich würde er die Gelegenheit bekommen, seine Position darzulegen. Heute würde er alles geraderücken können. Der Fahrer seiner dunkelblauen Limousine bog in die Straße hinter einem Rathaus ein. Als er die Fahrzeugtür öffnete, seinen Fuß gewandt auf die Straße setzte und seinen Kopf anhob, wirkte er mit jeder seiner einstudierten Bewegungen, mithilfe derer er sich aus dem Auto schälte, als würde er vor einem für ihn ausgerollten roten Teppich aussteigen und eine Schar an Fotografen erwarten. Wirklich gut aussehend war er nicht, denn durch den über Jahrzehnte genossenen Alkohol und die unzähligen Zigaretten schimmerte seine Haut gräulich-gelb und war aufgedunsen. Aber er war stattlich gewachsen und hatte trotz seiner über fünfzig Jahre noch volles, allerdings gefärbtes blondes Haar. Sein unsportlicher Körper steckte in einem dunkelblauen Anzug, der von seinem langjährigen Schneider angefertigt worden war. Gernot Melzer komplettierte seine Erscheinung mit italienischen spitzen Designerschuhen, die aus schwarz-weißem Schlangenleder gefertigt waren. Insgesamt wäre er zwischen den extravaganten Flaneuren auf der italienischen Luxusmeile der Via Monte Napoleone in Mailand nicht aufgefallen.
Angespannt blickten seine eisblauen Schlupfaugen durch seine Pilotenbrille auf sein Handgelenk, welches eine schwere Luxusuhr schmückte. Es war viertel vor zehn, und er fragte sich, wo sein Anwalt blieb. Immerhin bezahle ich dich gut, dann könntest du wenigstens pünktlich sein, ging es ihm durch den Kopf. Er kniff verärgert seine Augen zusammen, sodass sich drei tiefe Furchen zwischen den Augenbrauen bildeten.
Für zehn Uhr war Gernot Melzer durch das Gremium des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) geladen worden, und viel Zeit blieb nicht mehr, um noch einmal die wichtigen Details durchzugehen.
In Gedanken ging er seinen Werdegang durch, der im PUA sicher zum Thema gemacht werden würde. Er war vorbereitet. Sollen sie nur fragen. Gernot Melzer lächelte überlegen. Ja, er verdiente den Erfolg.
Mit viel Ehrgeiz, schneller Auffassungsgabe und Fleiß, wahrscheinlich auch mit einer ordentlichen Portion Skrupellosigkeit, hatte er ein expandierendes Bauunternehmen geschaffen und sich hohes Ansehen in der Hansestadt erworben. Wenn er zu einem Empfang im Rathaus oder einem anderen gesellschaftlichen Ereignis geladen worden war, freute sich Melzer wie ein Kind, das lange auf eine ersehnte Einladung zum Kindergeburtstag gewartet hatte. In der Tat, er war für den Wirtschaftsstandort Hamburg unentbehrlich. Ja, er war ein erfolgreicher hanseatischer Kaufmann mit hohem Ansehen. Überdies spendete er für das Kinderhospiz namhafte Summen, wirklich, man konnte ihm nichts nachsagen. Er lächelte stolz und selbstgefällig.
Melzer griff in seine Manteltasche und zündete sich eine Zigarette an, musste dann aber plötzlich einen Schritt zurücktreten, um dem an ihm vorbeirasenden Kurierfahrer auszuweichen, der ihm mit einem Schulterblick kopfschüttelnd bedeutete, dass er dem König der Straße im Weg gestanden hatte.
„Gehts noch, du Penner?“, entfuhr es Melzer, aber der Radfahrer fuhr unbekümmert weiter.
„Diese Kuriere sind echt die Pest“, schimpfte er leise vor sich hin und zog gierig an seiner Zigarette, während er nach seinem Rechtsanwalt Peter Dietrich Ausschau hielt, nicht ohne ihm zuvor eine eindringliche WhatsApp geschickt zu haben. Warten war nicht seine Stärke und schon gar nicht in diesem Moment. Wieder verdunkelte sich sein Gesicht, und er schob seine Zunge unter die Oberlippe.
Diese blödsinnige nervende Presseberichterstattung über die damaligen Zustände auf der Baustelle der Elbphilharmonie muss ein Ende haben. Und diese dauernden Lügen und unzutreffenden Verdächtigungen dieses Architektenbüros, allen voran Albert Berend, sind eine kaum zu überbietende Unverschämtheit.
Das Rufen seines Namens riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Gesicht hellte sich auf, denn Rechtsanwalt Dietrich kam mit langen Schritten auf ihn zu und streckte ihm zur Begrüßung den Arm entgegen. Ohne seinen Handschlag zu erwidern, baute Melzer sich auf und maßregelte seinen Beistand für die Verspätung wie einen Pennäler, was dieser souverän an sich abprallen ließ. Durch Melzers angestrengte Mimik und seine aufgebrachte Sprache fiel sein immer leicht herabhängender rechter Mundwinkel noch mehr aus der Gesichtssymmetrie. Fasziniert betrachtete Dietrich das aus der Form geratene Mienenspiel, und ihm fiel ein, dass er mal ein Gespräch in Melzers Büro verfolgt hatte, in dessen Verlauf die Sekretärin und ihre Kollegin vermuteten, dass Melzer mal einen Schlaganfall erlitten haben könnte. Dietrich war demgegenüber davon überzeugt, dass diese Lähmung von einer tiefen Verletzung zeugte, über die Melzer nie würde sprechen können. Und damit sollte er recht behalten.
Auf dem Weg zum Sitzungssaal besprachen sie in der verbliebenen Zeit die kritischen Punkte und unterbrachen ihre Unterredung erst, als sie im Vorraum des Sitzungssaals Albert Berend, der federführend mit dem Entwurf der Elbphilharmonie und deren Baubegleitung betraut war, auf einer Holzbank sitzen sahen. Er war ein attraktiver Mann um die fünfzig, schlank und gut gekleidet. Mit frisch geschnittenen silbergrauen Haaren und einem kurz gestutzten Vollbart, der seine vollen Lippen wirkungsvoll einrahmte, wartete er auf seine Einvernahme.
Irritiert über Berends Anwesenheit, betrat Melzer in Begleitung seines Bevollmächtigten den Saal und war – wenn auch nur für einen kurzen Moment – sichtlich beeindruckt von den mit Holz vertäfelten Wänden und den quadratisch aufgestellten Tischen, an denen die Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Platz genommen hatten. Im Zentrum des Raumes an der hinteren Wand imponierte ein altarähnlicher Bereich, an dem die ehrgeizige, von den Mitgliedern des Ausschusses gewählte Vorsitzende Anne Fliege-Schulz thronte. Sie hatte kurzes, platinblondes Haar und trug eine rote Lesebrille auf der Nase.
„Herr Melzer“, gab sie kühl bekannt. „Wir mussten Ihre Vernehmung leider kurzfristig verlegen auf 11.30 Uhr, da der Zeuge Berend wegen eines Todesfalles an dem ursprünglich vorgesehenen Termin nicht erscheinen konnte und jetzt an Ihrem Termin vernommen werden soll. Bitte finden Sie sich um 11.30 Uhr wieder ein.“
Melzer verließ gemeinsam mit seinem Verteidiger wutschnaubend den Saal und machte sich gegenüber seinem Rechtsanwalt Luft. „Wegen des Architekten muss ich jetzt warten. Was glaubt die Kuh eigentlich, wer sie ist? Wegen eines Todesfalles kann er nicht erscheinen. Kann man da nicht mal vorher Bescheid geben?“
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