„Die dürfte für eine DNA-Untersuchung von Interesse sein, aber das wissen Sie sicher selbst“, kommentierte Dr. Manz den Fund und beendete das Gespräch. Nachdem Nora das Handy wieder eingesteckt hatte, drehte sie suchend ihren Kopf und entdeckte Isa mit der blinkenden Weste. Diese hatte nach einem fest verwurzelten Ast geschnappt und zog nun verspielt immer wieder daran. Ihr Hintern bewegte sich durch das Zerren rhythmisch hin und her, jedoch gab sie nach einer Weile entmutigt ihr Vorhaben auf. Nora beobachtete Isa und musste leise lächeln.
Sie wählte die bereits eingespeicherte Nummer ihres Kollegen Alexander Berend und informierte ihn über die Neuigkeiten. Alexander entschied, mit unterschiedlichen Kräften sowohl die Wohnung des weiblichen Opfers als auch das Bordell zu durchsuchen, in dem sie gearbeitet hatte. Er instruierte Pieter Struck, damit er sich um die beiden richterlichen Durchsuchungsbeschlüsse für die Objekte kümmerte, und organisierte die Spurensicherung für das Bordell „Flow“, welches seiner Vermutung nach noch geöffnet und vielleicht der Tatort war. Nora beauftragte er damit, das Handy, welches Lotta Kardinal ihr übergeben hatte und dem letzten Freier von Simone Maar zuzuordnen war, über die technische Abteilung auslesen zu lassen.
„Ach, und kläre bitte, ob eine männliche Person vermisst wird!“
***
Am Freitagnachmittag kamen alle mit dem Fall befassten Kollegen der Mordkommission zusammen und betrachteten das von Nora aufgestellte Schaubild auf dem Smartboard, auf dem die Namen der in den Fall verwickelten Personen aufgelistet waren. Während ihres Vortrages lief Nora in ihren schwarzen Sneakers vor der Tafel hin und her. Sie trug diese Turnschuhe fast immer, weil sie fand, dass ihre zu groß geratenen Füße darin kleiner wirkten. Sie projizierte die Bilder der beiden Toten an die Tafel, beschriftete diese und malte für die bessere Verständlichkeit Pfeile und Bögen auf das Brett. Zufrieden schob sie ihre Nickelbrille ins Gesicht und drehte sich zu ihren Kollegen, die sie erwartungsvoll anblickten. Pieter Struck, Andreas Schmid, Tanja Richter, Martina Mann und Alexander Berend waren pünktlich erschienen, während Michael Kloss verspätet dazukam, weil er mit einer neuen Vermisstenanzeige und der Einvernahme von Lisa Fels befasst war.
Lisa Fels hatte ihren Freund Denis Berend am Dienstagabend das letzte Mal gesehen und seitdem nicht mehr telefonisch erreicht. Während sich Michael Kloss in dem Drehstuhl wog, wandte er sich an seine Kollegen. „Entschuldigt, es hat länger gedauert als erwartet.“ Dabei schielte er besorgt zu Alexander und schien ein ungutes Gefühl zu haben.
Nora referierte über das weibliche Opfer Simone Maar, die in dem Edelpuff gearbeitet und mit der dort beschäftigten Lotta Kardinal eine Liebesbeziehung gehabt hatte. Dabei beschloss sie, zunächst Stillschweigen darüber zu bewahren, dass es sich bei Lotta Kardinal um ihre Schwester handelte.
„Die Identität der Frau konnte durch ihre Lebensgefährtin festgestellt werden. Des Weiteren haben wir mit der speziellen Superlite S 04 Blut gefunden und DNA extrahieren können. Es wurden alle Spurenträgerflächen mit der Lichtquelle illuminiert. In einem der Bordellzimmer sind wir an Wand und Boden fündig geworden. Die Untersuchung des Blutes hat ergeben, dass es sich um Mischspuren handelt, das Blut aber trotzdem Simone Maar zugeordnet werden kann.“
Nora machte eine Pause und schaute in die Runde.
„Wir haben somit den Tatort gefunden“, gab sie feierlich bekannt. Sie wandte sich mit erhobenem Arm dem zweiten Bild an dem Brett zu.
„Diese männliche Leiche haben wir anhand des Handys identifiziert, welches uns Lotta Kardinal überlassen hat. Es handelt sich bei dem zweiten Opfer um Manfred Bülow, der von seinen Kollegen als vermisst gemeldet worden war. Er war ein ehemaliger Mitarbeiter der Baubehörde, federführend zuständig für das Vergabeverfahren des Bauvorhabens Elbphilharmonie. Ein Einzelgänger, keine Familie, aber einen Haufen Geld auf dem Konto.“
Sie nickte Tanja Richter lobend zu.
„Dank Tanja sind wir auch bereits im Besitz der Kontounterlagen. Zwischen 2007 und 2015 gibt es Kontenbewegungen, kleinere Beträge, aber regelmäßig. Sowohl Einzahlungen als auch Abhebungen. Bülow hat regelmäßig Bareinzahlungen vorgenommen. Auch hob er regelmäßig monatlich 1500 Euro ab. Es ist aber unklar, von wem er das Geld bekommen haben könnte.“
Während sie zum Board lief, um ein neues Dokument aufzurufen, stolperte sie über ihre Füße. Es war ihr unangenehm, kurz errötete sie und setzte dann aber ihren Vortrag fort.
„Hier ein WhatsApp-Chatverlauf aus Bülows Handy von November 2015, der ist fundamental.“
Nora las die Nachricht vor, die übersät war mit gelb leuchtenden, lächelnden Emojis.
„Wir müssen uns noch mal treffen. Irgendwie, denke ich, sollte es angesichts der für Sie lohnenden Kostenexplosion noch mal eine Aufstockung geben, Smiley. Das ,Flow‘ ist teuer. Smiley.“
Nora wandte sich der Runde zu, die an dem langen Bürotisch saß und sich Notizen machte.
„Wir müssen herausfinden, wem diese Nachricht galt, aber ich mache mir da nicht viel Hoffnung.“
Nora setzte ihren Vortrag fort.
„Jetzt wird es spannend. Die Kontaktlinse, die wir bei der weiblichen Leiche gefunden haben, kann Frank Meister zugeordnet werden. Wir haben einen ,Spuren-Personen-Treffer‘ der DNA-Kartei des Bundeskriminalamtes erhalten. Polizeilich ist er bekannt als Zuhälter, und außerdem ist er mehrfach vorbestraft. 2005 wurde er aus der Haft entlassen. Und jetzt kommt der Clou: Er ist seit seiner Haftentlassung in der Sicherheitsabteilung von Gernot Melzer beschäftigt.“
Nora machte eine Kunstpause und sah erneut in die Runde. Die Blicke ihrer Kollegen waren weiterhin aufmerksam auf sie gerichtet.
„Gernot Melzer ist Inhaber der Baufirma Melzer. Er baut, wie ihr wisst, federführend die Elbphilharmonie. Das Konzerthaus ist kurz vor der Eröffnung. Versteht ihr? Der für das Vergabeverfahren des Bauvorhabens Elbphilharmonie zuständige Sachbearbeiter ist Stammkunde im ,Flow‘ und wird dort von Frank Meister abgeknallt. Es liegt auf der Hand, dass Bülow auf der Gehaltsliste von Melzer stand. Welche Rolle die Prostituierte spielt, ist noch unklar. Vielleicht war sie Zeugin und musste beseitigt werden?“
„Aber warum tötet Frank Meister Bülow nicht an einem Ort ohne Zeugen?“, gab Alexander zu bedenken.
„Ob dort noch weitere Zeugen waren, werden wir noch klären“, entgegnete Nora. „Wird sich finden. Möglicherweise hatte er mit ihr eine andere Rechnung offen? Immerhin ist oder war er ja im Zuhältermilieu tätig.“
Sie überlegte kurz.
„Ich werde über die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen Frank Meister beantragen lassen und versuchen, gegen Gernot Melzer eine Telefonüberwachung zu erwirken. Pieter, übernimmst du die Recherche und Beantragung der Telefonüberwachung?“ Er nickte und trank den letzten Schluck kalten Kaffee.
Nach der Besprechung erhob sich Michael Kloss aus dem Drehstuhl und ging langsamen Schrittes auf Alexander zu, der von ihm abgewandt gerade an der Kaffeemaschine stand. Leise schimpfte er über den verkrusteten Schmutz, den er seinen faulen Kollegen verdankte, während er die Maschine reinigte. Als Alexander seinen Kollegen bemerkte, drehte er sich um.
„Hör mal, Alexander, dein Bruder wird vermisst, seine Freundin war eben hier. Hast du es schon gehört?“
„Nein“, antwortete Alexander. „Aber mein krimineller Bruder war schon häufiger mal verschwunden. Der taucht schon wieder auf.“
Mit diesen Worten wandte er sich wieder der Kaffeemaschine zu, aber bei Michael Kloss blieb das mulmige Gefühl.
***
„Ja“, meldete sich Albert Berend am Telefon. Der Wind pfiff so laut zwischen den Gebäuden, dass Berend kaum zu verstehen war. Die nordöstlichen Böen zerrten gewaltig an der royalblauen Europafahne, und das rhythmische Klappern des Seils am Fahnenmast tat das Übrige.
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