Denis drückte den Knopf der Fernbedienung, vernahm ein zweifaches, kurzes, helles „Klack-Klack“ und entriegelte die Fahrerseite seines roten Mercedes Benz AMG Coupé mit gold lackierten 22-Zoll-Felgen. Er ließ sich in seine Ledersitze fallen und fuhr mit aufheulendem Motor auf die Reeperbahn, wo er eines seiner „Pferdchen“ treffen wollte.
Lisa Fels schaffte neben anderen „Freundinnen“ für Denis an und war inzwischen bis unten an der Ecke der Davidstraße aufgerückt. Sie fror und sah aus, wie die meisten Prostituierten aussehen. Große Silikonbrüste, die die Haut zum Bersten brachten, falsche lange Nägel, aufgepumpte Lippen und bis zur Unkenntlichkeit geschminkt. Als sie Denis sah, glänzten ihre Augen.
„Du, Schatz“, sagte er, und seine Stimme ließ erkennen, dass er ein Nein nicht akzeptieren würde. „Ich brauch dringend Kohle, wie viel hast du gerade da?“
Enttäuscht kramte sie in ihrer Bauchtasche und übergab ein Bündel Scheine.
„Sei nicht immer so wählerisch und mach‘, was die Kunden wollen. Du stehst ja in der Poleposition. Morgen will ich mehr Kohle sehen. Ich fahre nachher zu mir nach Hause, brauchst also nicht auf mich zu warten, Schatz.“
Mit diesen Worten verließ er die Davidstraße und betrat angespannt den legendären Club „Ritze“, um sich in einem Hinterraum mit dem Mann zu treffen, der ihm – so seine Vermutung – wegen des geplatzten Kokaindeals eine Menge Ärger machen würde.
Albaner-Klaus richtete sich auf und ging Denis mit großen Schritten entgegen, als dieser den kleinen, von Nebelschwaden durchzogenen Raum betrat. Er baute sich vor ihm auf.
„Ich hab es schon gehört, Denis, aber es ist mir scheißegal, dass die Bullen das Kilo sichergestellt haben. Ich will meine Kohle, 35000 Euro schuldest du mir.“
Ohne darauf einzugehen, schimpfte Denis über die einige Tage zurückliegende Polizeiaktion. „Irgendeiner von den Schweinen hat den Deal an die Bullen verpfiffen, wir waren so vorsichtig, Scheißdreck, wenn ich den Verräter erwische, ist der tot, ich schwör‘...“
„Heute war deine letzte Chance zu bezahlen. Ich habe die Thunder Devils im Nacken, die wollen ihre Kohle.“
„Ich scheiß auf die Wichser, sollen die doch kommen, wenn sie was wollen. Ich bin ein Osmane. Wir Osmanen haben keine Angst.“
Dabei klopfte sich Denis mit seiner Faust auf das Osman-Abzeichen. Ein asiatisch anmutender, auf einer Harley Davidson sitzender Glatzkopf mit Sonnenbrille und einem nach hinten gerutschten Fes, dem orientalischen, kegelstumpfförmigen, roten Hut, der aussah wie ein umgedrehter, runder Blumentopf.
Diese Geste wirkte eine Spur übertrieben, als wäre er ein Gladiator und wollte Cäsar vor dem Kampf huldigen. Die Todgeweihten grüßen dich.
„Scheiße, Mann, die knallen dich ab und mich gleich dazu, du Arsch, du hast doch Kohle, Mann, Alter, lass mich nicht hängen!“, sagte Albaner-Klaus.
„Was kann ich dafür, wenn die Bullen den Schnee klauen? Ich kann von Glück sagen, dass ich gerade nicht da war, als die Schmiere aufgeschlagen ist, sonst wäre ich jetzt auch im Knast. Mann, Scheiße, ich habe keine Kohle gekriegt, also kriegen die Pisser auch nix.“
Krachend fiel der Stuhl zu Boden, als Albaner-Klaus aufsprang und Denis am Kragen packte. Er schlug ihm mit der Faust direkt auf die Nase. Denis hörte es knacken. Der helle Schmerz schoss ihm durch die Schädeldecke und Tränen in die Augen. Er ekelte sich über den eisenhaltigen Geschmack seines Blutes, das ihm in den Mund rann. Mit der Außenfläche seiner Hand wischte er sich über die Mundwinkel.
Albaner-Klaus schrie ihn mit hochrotem Kopf an. „Ich werde ihnen sagen, wo sie dich finden, du wirst dich wundern, wie schnell sie dich am Arsch haben.“ Er stieß Denis zur Seite, rannte aus dem Raum, legte der verdutzten Kellnerin zwanzig Euro auf den Tresen und donnerte aus der Kneipe. Denis verließ ebenfalls das kleine Hinterzimmer, erbat sich bei der Frau an der Bar ein Taschentuch und reinigte sich notdürftig. Fluchend knallte er die Lokaltür zu, hetzte zu seinem in der Nähe abgestellten roten Benz und startete seinen Wagen.
Er hatte weder den auf dem Kiez in der Nähe seines Wagens abgestellten weißen Van noch die dunkel gekleideten Gestalten bemerkt, die ihn beobachtet hatten. Die Scheinwerfer des weißen Sharans leuchteten auf, und die beiden Männer nahmen die Verfolgung auf.
Denis verlangsamte das Tempo, als er knirschend in den kleinen, von großen Bäumen beidseitig gesäumten Feldweg einbog, der so schmal war, dass die kahlen, beschneiten Zweige von beiden Seiten des Weges wie ein Dach wirkten. Es schien, als würde man in einen von innen mit Bäumen bewachsenen, dunklen Tunnel fahren, für den kein Ausgang vorgesehen war. Denis schaltete das Abblendlicht an, um den Weg besser sehen zu können. Seine kleine Bauernkate war das letzte Haus im Dorf, und gelegentlich mochte er die Abgeschiedenheit. Er betrat sein Häuschen und suchte den Lichtschalter. Das war das Letzte, woran er sich erinnern konnte, bevor ein harter, schmerzhafter Schlag auf den Hinterkopf ihm das Bewusstsein nahm.
Kapitel 6
Spuren-Personen-Treffer
Früh am Morgen wickelte Nora der schwanzwedelnden Isa eine Leuchtweste um den Rumpf, schwang sich auf ihr Rennrad, an ihrem Kopf eine hell leuchtende Stirnlampe befestigt, und startete ihre morgendliche Radrunde entlang der Kollau durchs Niendorfer Gehege. Der Wind pustete eiskalt unter ihre Sportjacke, die sich zu einem Ballon aufblähte, und ließ sie frösteln. Um warm zu werden, trat sie die Pedale immer schneller und erkundete das dunkle Gehege mit den schwarzen, knorrigen Bäumen. Ihr Stirnlicht und der silberfarbene, hell leuchtende Mond wiesen ihr mit bizarren Schatten den Weg. Gelegentlich drehte sie sich zu Isa um. Mit beklemmenden Gefühlen im Bauch ließ sie die gestrigen Ereignisse Revue passieren. Vor allem dachte sie über die Begegnung mit ihrer Schwester nach. Sie und Lotta hatten in Hamburg viele Jahre nebeneinanderher gelebt, ohne von der jeweils anderen zu wissen. In dieser großen Weltstadt waren sie sich nicht ein einziges Mal begegnet. An Familientreffen nahm Lotta auch schon lange nicht mehr teil. Trotzdem hatte sich Nora mehr als einmal vorgestellt, wie die Begegnung zwischen ihnen verlaufen würde. Was sie tun müsste, um Lotta zurückzugewinnen. Aber sie hatte auch ihre Härte und Unnachgiebigkeit gefürchtet. Ungeachtet ihrer Bedenken hatte sie Lotta trotzdem gesucht. Über Facebook und über die Einwohnermeldedaten hatte sie schnell ausgemacht, wo sie wohnte. Schon einige Male hatte sie mit ihrem Fahrrad vor Lottas Wohnung gestanden und zum erleuchteten Fenster hochgeschaut. Sie hatte es auch einige Male geschafft, bis zur Haustür vorzudringen, den Impuls zu klingeln hatte sie jedoch immer unterdrückt. Wenn ihr Zeigefinger auf dem Klingelknopf geruht und sie sich mit einem klebrigen Kloß im Magen vorgestellt hatte, was sie ihr sagen könnte, hatte ihr stets der Mut gefehlt zu klingeln. Gestern war nun der Moment gekommen, wo sie sich Lotta hätte nähern können, stattdessen musste sie ihr die Todesnachricht ihrer Lebensgefährtin überbringen.
An ihrem Hosenbein rüttelte und brummte das Handy und holte sie aus ihren Gedanken.
„Ja.“
„Guten Tag, Doktor Manz von der Rechtsmedizin hier, spreche ich mit Frau Kardinal?“
„Ja, guten Morgen, Herr Doktor Manz.“
Nora wunderte sich, zu so früher Stunde schon die Obduktionsergebnisse erfahren zu können, und war beeindruckt von den schnellen Resultaten. Sie lauschte dem vorläufigen Bericht des Rechtsmediziners und konnte es kaum glauben. Beide Leichen waren mit einem mehr oder weniger aufgesetzten Kopfschuss hingerichtet worden. Das konnte die Spurensicherung über die Schmauchspuren feststellen. Überdies hatte man beim Auswickeln der weiblichen Toten an der innenliegenden Plastikverpackung eine Kontaktlinse gefunden.
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