Doch kam er immer wieder. Unter allen Demütigen, die im Dorfe lebten, wo die Frauen noch seinen Ärmel zu küssen liebten, ragten diese beiden Stolzen auf wie die Pappeln über die Uferweiden: der Großvater Jeromin, der die Netze in seinem See stellte und von dem die Leute sagten, daß er schon Napoleon aus Rußland habe zurückkehren sehen, und Marthe, die Frau seines Sohnes. Für beide war er nichts als ein Bild wie andre Bilder, die im Raum der Welt aufgehängt waren, und beider Augen gingen durch ihn hindurch, als suchten sie die Wand hinter ihm, in die der Nagel seines Lebens eingeschlagen war.
Einmal sah Marthe sich um, ob er nicht zwischen den Büschen stehe wie ein Wolf um die Abenddämmerung. Aber dann ging sie ruhig weiter. Männer waren nicht zu fürchten, solange man sie nicht begehrte. Und sie begehrte nicht mehr.
»Die meisten von uns«, sagte Jakob Jeromin zu seinem Sohn, »bleiben wie Fallholz, das der Sturm und Schnee von den Bäumen brachen. Sie liegen, wo sie gefallen sind, und werden wieder zu Erde. Die Armen haben keine Flügel. Und einige sind wie der Rauch, der aus dem Meiler steigt. Die Menschen sehen ihnen nach, aber der Wind verweht sie. Aber einige sind wie das Holz, das dort unter der Erde glüht. Sie werden Kohle, und sie bewegen die Welt.«
Wunderbar war es, dem Vater zuzuhören. Man verstand nicht immer, was er sagte. Wie Wasser im Fließ glitt es vorbei, dunkel über die Schwärze des Grundes. Aber es rauschte und zog dahin, Schatten und Licht, Raum und Stille. Es war schöner, als was der Pfarrer sagte, und anders, als wenn die Mutter sprach. Nur der Großvater konnte noch so sprechen, aber bei ihm wußte man nicht, ob er nicht im Traume spreche, denn seine Augen waren oft geschlossen, und seine Worte fielen so langsam wie die Nebeltropfen vom Ahorn im Herbst.
Sie lagen auf der Lichtung, den Kopf an die Mooswand der Hütte gelehnt, und sahen zu, wie der Meiler rauchte. Ihre Gesichter waren schwarz unter dem hellen Haar, das des Vaters von der Arbeit und das des kleinen Jons, weil er es heimlich mit den Kohlenresten der alten Meiler eingerieben hatte, um zu sein, wie der Vater war. Er war Jons Ehrenreich getauft, aber des zweiten Namens schämte er sich. Die Mutter mußte wohl nicht klug gewesen sein, als sie ihn sich ausgedacht hatte, und die Leute im Dorf hatten die Köpfe zusammengesteckt. Der Vater hatte geschwiegen, wie er meistens tat, und erst in diesem Frühjahr, als er Jons in der Schule angemeldet und der alte Lehrer Stilling gesagt hatte, daß es ein schöner Name sei, hatte der Vater gemeint, daß es besser sei, die Leute gäben einen solchen Namen beim Begräbnis statt bei der Taufe. »Denn wer weiß von uns«, hatte er hinzugesetzt, »ob er am Ende seines Lebens Ehrenreich heißen wird?«
Ja, das wisse wohl nur der liebe Gott, hatte der Lehrer nachdenklich gesagt.
»Und was ist das, die Welt bewegen, Vater?« fragte Jons.
»In der Schule werden sie dir sagen, daß es die Kaiser und Könige sind, die die Welt bewegen«, erwiderte Jakob. »Aber du mußt das nicht glauben. Sie werfen Steine in das Wasser, aber sie schöpfen es nicht. Sie verbrennen, aber es bleibt nur Asche unter ihren Füßen, nicht Kohle. Christus hat die Welt bewegt und viele nach ihm. Er hat Blinde geheilt und Tote auferweckt. Er hat die Herzen bewegt. Und nur wer die Herzen bewegt, bewegt die Welt.«
»Und der Großvater, hat er die Welt bewegt?«
»Der Großvater hat Speise für die Armen gefangen, ein ganzes Leben lang. Und auch Petrus war nicht mehr als ein Fischer. Und einmal, als ich ein Kind war, ist ein Mensch erschlagen worden in diesem Wald. Ein Förster. Wir haben alle gewußt, wer es getan hat, aber niemand hat es gesehen, und er hat es geleugnet und die Tat gerühmt, denn der Förster war ein strenger Mann gewesen, eine Zuchtrute über den Armen. Aber dann ist der Großvater zu ihm gegangen und hat in sein Herz gesprochen. Man hat den andern schreien und fluchen hören, so daß die Leute auf der Straße gestanden haben, alle vor ihren Türen, wie vor einem Gewitter, das Hagel bringt. Aber dann ist er leise geworden, immer leiser, und zuletzt ist der Großvater mit ihm aus der Tür getreten. Der andre hat wie ein alter Mann ausgesehen, grau und mit blinden Augen, aber der Großvater hat geleuchtet wie Jakob nach dem Kampf mit dem Engel, und er hat den anderen die Straße entlang geführt wie ein Kind, bis zum Hause des Gemeindevorstehers, und die Menschen haben kein Wort gesprochen, wie sie vorübergegangen sind. Und dort hat der andere bekannt, daß er es gewesen ist, und sie haben ihn fortgebracht vor den Richter. Viele Jahre ist er fortgewesen, in einem Haus, wo Eisenstangen vor den Fenstern sind, und dann ist er fortgezogen von hier, und keiner weiß, wohin seine Füße ihn getragen haben ... ein einfacher Mann war der Großvater, geringer als Pfarrer und Richter, nichts als ein Fischer, aber damals hat er die Welt bewegt!«
In seinem dunklen, mageren Gesicht unter dem hellen Haar leuchteten seine Augen, als habe er selbst den Kampf mit dem Engel geführt, und seine grobe, rußige Hand war wie die Hand eines Propheten, als er sie aufhob und sagte: »Auch die Armen können eine Krone tragen, Jons. Vergiß es nicht, wenn du groß bist und deine Hände an ein Werk legst!«
»Und du selbst, Vater?« fragte Jons, blaß vor Erregung.
Aber Jakob lächelte sein stilles, trauriges Lächeln. »Nein, Jons«, sagte er freundlich. »Ich habe nichts bewegt. Nur Worte und Gedanken vielleicht. Ihr seid sieben, und da habe ich keine Zeit gehabt.«
Jons dachte lange nach. »Aber Michael?« fragte er dann. »Wird es nicht vielleicht Michael sein?«
Michael war der älteste seiner vier Brüder, siebzehn Jahre alt, düster und schweigsam wie ein Novemberwald. Der Knecht beim Gemeindevorsteher war und kaum mehr als ein spöttisches Lächeln für den sechsjährigen Jons übrig hatte, aber dem er mit einer zärtlichen, scheuen Liebe ergeben war, wie dem Ritter Roland, dem in der Todesstunde sein Horn zersprang, und von dem Christean, der Bruder mit den Krücken, ihm erzählt hatte.
Der Vater legte ihm die schwarze Hand leise auf die Stirn. »Laß es gut sein, Jons«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß es Michael sein wird, aber wir wissen es nicht. Jeder von euch kann Ehrenreich heißen, wenn sie Sand auf eure Augen schütten werden.«
Aber Jons wußte, daß es nicht jeder von ihnen sein konnte. Und er wußte auch, weshalb der Vater eben geseufzt hatte. Gotthold würde es nicht sein können. Er quälte die jungen Katzen und warf mit Steinen nach den Hunden, die an der Kette lagen. Und auf den Pfad zu den Booten hatte er Glasscherben gestreut, am Abend, bevor Jons barfuß zum Großvater gelaufen war. Und er war es auch gewesen, der »Frau Mutter« gesagt hatte. Nein, nicht jeder, und es wäre besser gewesen, die Mutter hätte ihm nicht diesen Namen gegeben. Denn vielleicht wartete der Vater am meisten auf ihn. Und er hatte doch eben erst begonnen, zur Schule zu gehen.
Der schwarze Fichtenwald stand hoch und regungslos um die Lichtung, und die dünne Rauchsäule aus dem Meiler stieg so gerade wie ein Stab aus ihr empor. Wenn man die Augen halb schloß, konnte man meinen, daß sie bis zu der weißen Wolke reiche, die langsam über den Himmel schwamm, und wenn man Michael wäre, der die Habichtshorste ausnahm, würde man an diesem Stab vielleicht bis in die Wolke klettern können. Dann würde man das Dorf sehen und den See, das Schloß des Herrn von Balk und die Moore, und vor allem die großen, schwarzen Wälder, in denen der Förster erschlagen worden war, bei dessen Tode der Großvater die Welt bewegt hatte.
Die Kiebitze riefen auf dem Moor, und manchmal ging ein leises, hohes Sausen über den Wald. Dann rieselten die trockenen Fichtennadeln herab, oder ein Zapfen schlug mit dumpfem Laut ins Moos. Aber es war niemand gewesen, nur der Wind, und man brauchte die Augen nicht zu öffnen, auf deren Lidern die warme Sonne lag. Manchmal stand auch der Vater leise auf und schlich sich zum Meiler, wo er niederkauerte und in die unsichtbare Glut zu lauschen schien. Oder er hielt eine Stange in den Händen; und zwischen den leise gehobenen Wimpern sah er schwarz und riesig aus, ein Zauberer des Waldes, der die Bäume kochte, als eine dunkle Speise für alles, was unter den Wurzeln und dem Moose lebte.
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