Sie beredeten es ohne Bitterkeit. Es war das Unabänderliche, das schon die Nacken ihrer Großväter und Großmütter gebeugt hatte und auch die Nacken ihrer Enkelkinder beugen würde. Aber aus gebeugtem Munde konnte man scherzen, über den schweren gelben Mantel des Herrn von Balk etwa, der ihm bis auf die Füße reichte, oder wie er seine Frau auf dem Mistwagen über die Grenze seiner Äcker fahren ließ, wenn er ihr »Dornenkronengesicht« nicht mehr ansehen konnte, wie er zu sagen pflegte.
Immer blieben die Augen still, auch beim Scherzen, und die Hand der Sorge blieb auf ihren Schultern, und die Falten blieben in ihren strengen Gesichtern. Aber wenn sie aufstanden, die Schuhe in der Hand und den Korb über dem Arm, sahen sie doch aus, als könnten alle Landräte und Gendarmen und Krugwirte der Welt sie nicht bis in die Erde hineinbeugen. Ihre Stirnen konnten den Acker berühren und ihre Knie den Staub der Straße, aber tiefer hinein gehörten nur die Toten, die sich nicht mehr wehren konnten.
Es gab Böse unter ihnen, wie die Mutter Kroll, die auf ihrem Ausgedinge lebte, aber eine Herrin blieb über Sohn und Schwiegertochter, mit harter Hand und hartem Herzen. Es gab Prahlerische und Törinnen, wie die Frau des krummbeinigen Gonschor, und kindlich Träumende und Trotzende wie Gina Bojar. Aber sie lebten doch zu dicht beisammen, als daß sie eine Welt der Täuschung vor einander hätten aufrichten können. Es gab Neid und Feindschaft in dem kleinen Dorf, Streit und Versöhnung; aber es gab keine Geheimnisse. Zu dicht stießen Giebel und Fenster aneinander. In Haß und Liebe waren sie nackend und bloß, und das einzelne Schicksal war auch des Dorfes Schicksal.
Und wie sie nun wieder aufstanden und sich auf den Weg machten, vom Staub umweht und der schon sinkenden Sonne beglänzt, ein müder und gebeugter Zug, auf dessen Schultern alle Tagewerke ihres Lebens zu liegen schienen, sahen sie doch aus wie Schwestern desselben Glaubens und desselben Schicksals, von der gleichen Hand geformt, von dem gleichen Befehl gelenkt.
Auch Marthe Jeromin, so still und abseits sie sich hielt. Vielleicht konnte man gegen einen Mann und seine Kinder leben, wenn es nottat. Aber gegen ein Dorf konnte man nicht leben. Es bestand nicht aus dem ungeschriebenen Gesetz der Lebenden, sondern aus dem Gesetz der Toten. Vieler Toter, die über Jahrhunderte zurück in der sandigen Erde lagen, auf dem Grunde des Sees und in den Mooren an seinem Rande. Deren Gesichter zerfallen waren, aber deren Hände noch immer des Nachts an die niedrigen Türen pochten, wenn jemand aufstehen wollte gegen ihr Gesetz. Die Hütten zerfielen, die Dächer sanken ein, und viele Male waren Krieg und Pest, waren Mord und Brand über sie dahingegangen, so daß nur die verkohlten Schächte der Schornsteine gegen den roten Himmel gestanden hatten. Aber immer war jemand übriggeblieben, der aus seinem Blut aufgestanden war oder aus den Höhlen des Waldes zurückgekrochen kam. Der sich an den glühenden Balken wärmte und von Wurzeln und Rinde seine Nahrung gewann. Und von ihm war die Auferstehung ausgegangen. Auch hatte er das Gesetz bewahrt. Die Kätner fielen, die Kinder, das Vieh. Aber das Dorf fiel nicht. Aus Brache und Ödland wuchs wieder das Korn, die Schwalben kehrten zurück, der Flieder blühte über den zerstreuten Särgen. Stolze Geschlechter sanken dahin und kamen nicht wieder, aber die Armen kamen immer wieder. Sie waren fruchtbar wie die Erde, und ihren Samen trug der Wind, wie er den Samen der Erde über die Öde trug.
Während die Kiebitze über den Mooren schrien, dachte Marthe, daß sie sieben Kinder geboren hatte, und eines davon war ein Krüppelkind. Und eines war böse wie ein Wolf und eines finster und stolz. Und keines kam zu ihr, wie der junge Vogel in sein Nest kommt. »Frau Mutter«, hatte der Wolf gestern zu ihr gesagt. »Frau Mutter, dürfen wir auf den Hof gehen und Atem schöpfen?« Sie hatte zugeschlagen, hart und genau, wie immer, wenn der lodernde Zorn ihr in die Augen schoß, aber der Schlag hatte sein Lächeln nicht ausgelöscht, das wie ein Aussatz um seine Mundwinkel saß.
»Frau Mutter«, lachte sie bitter und blickte auf Ginas gesegneten Leib. »Wenn sie jung sind, denken sie, daß eine Klapper eines Kindes Herz gewinnt, aber wenn sie aufhören, jung zu sein, erkennen sie, daß sie nur der Schacht sind, aus dem es aufwärts steigt. Das Fremde, das ganz für sich ist. Von einem fremden Mann und fremden Ahnen. Dann büßen sie die Lust, und manchmal war es nicht einmal die Lust ... getrieben wie die Kreatur und ärmer als sie, denn die Kreatur ist wenigstens ohne Scham ...«
Sie blickte über die Schonungen hin, ob der Rauch des Meilers schon zu sehen wäre, wo ihr Mann die Kohlen für den Herrn von Balk brannte. Das war nun sein Tagwerk. Über den Netzen träumen, die der Großvater instand hielt; oder am Meiler liegen und dem Rauch nachsehen, der weiß oder blau über die Wipfel stieg; oder die Bäume fällen im königlichen Forst. Und einmal hatte sie gedacht, daß er ein Herr sein würde über Menschenherzen, mit seinen stillen Augen und der leisen Gewalt des Wortes, die ihm gegeben war und mit der er sie verzaubert hatte zwischen den dunklen Mooren ihrer Heimat. Aber der Wind unter seinen Flügeln war erstorben, und wie ein kranker Vogel suchte er sein Brot im Gebüsch. Sie hatten keinen Stolz hier und keine Wildheit. Sie waren Kinder des Waldes, und der Wald machte dumpf und still. Er war der große Zauberer, der die Netze auswarf und mit seinen kühlen Händen die Menschenherzen aus den Fäden nahm.
Die Sonne stand schon hinter dem Walde, als sie den Rauch des Dorfes rochen und Kiewitt sahen, der mit seiner alten Kuh den Pflug durch das Ödland zog. Sie hatten seinen Namen im Dorf vergessen und nannten ihn Kiewitt, wegen seiner hellen Stimme und weil er den Kopf zwischen die Schultern duckte, bevor er sprach. Er war derjenige, der die Gemeinschaft des Dorfes verlassen hatte, ein Sektengläubiger und Abseitiger, von dem sie sagten, er sei mit sechzig Jahren mit Moorwasser noch einmal getauft worden. Der Herr von Balk hatte ihm ein Stück Moorland gegeben, wo es an die Heide grenzte, und dort hatte er seine Hütte gebaut und seinen Herd gemauert. Er flocht Körbe und Fischreusen, Netze und Peitschenstiele, und alle Geheimnisse des Waldes waren ihm kund. Er war kein Gerechter, sondern ein Leidender, und man sagte, daß er den Tod sehe, wenn er am Waldrand stehe und über die Rohrdächer des Dorfes blickte.
»Kiewitt, komm mit!« riefen die Kinder, und auch Gina rief es, als die kleine, gebeugte Gestalt in der Furche stand und geduldig wartete, bis die Kuh ihre Füße wieder langsam voreinander setzte.
Aber er schüttelte nur stumm den Kopf, deutete mit der Hand auf die gepflügte Erde und beugte sich dann herab, wobei er die rechte Hand an sein Ohr legte, als wolle er die Rufenden ermahnen, auf eine Stimme unter der Erde zu lauschen. Dann zog die Kuh wieder an, und sie sahen, wie die Griffe des Pfluges seine Arme hin und her warfen. So viele Wurzeln und Steine barg der Boden.
Da gingen sie weiter, Gina mit stillem Gesicht, und es war nicht nötig, daß die alte Frau Daida mahnend sagte: »Beuge dich, junge Frau, beuge dich!«
Auf der letzten Höhe sahen sie die dünne Rauchsäule des Meilers, und Marthe nickte ihnen zu, bevor sie zwischen den Wacholderbüschen verschwand. Sie wollte sehen, ob ihr Jüngster wieder am Meiler lag und seine Zeit vertat. Er und Maria hielten zum Vater, stille Kinder, die vor einem harten Wort erschraken. Sein Blut, nicht das ihrige, aber sie wußte nicht, ob sie es anders wünschen sollte.
Der Meiler war eine Laune des Herrn von Balk. Die Kohle ging zu den Schmieden und Bäckern der Umgegend, aber es kam ihm nicht auf die Kohle an. Es kam ihm auf das Geheimnis an, das Ort und Tätigkeit umspann, und daß der stille Mann mit dem alten Namen Jeromin in seinen Diensten stand. Immer wenn er durch das Dorf kam, hielt sein hochrädriger Wagen vor dem Haus mit dem alten Ahorn, und immer verlangte er, Frau Marthe zu sprechen. Aber oft ließ sie sagen, sie habe keine Zeit, und wenn sie Zeit zu haben meinte, sah sie über ihn hinweg, wie sie über den Offizier am Kasernentor hinweggesehen hatte. Es gab Weniges, auf dem sie ihre Augen ruhen ließ.
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