Heute gilt nach Sozialgesetzbuch SGB IX ein Rechtsanspruch auf die gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder, der in den »Leistungen zur Teilhabe« formuliert ist:
Leistungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder werden so geplant und gestaltet, dass nach Möglichkeit Kinder nicht von ihrem sozialen Umfeld getrennt und gemeinsam mit nicht behinderten Kindern betreut werden können. Dabei werden behinderte Kinder alters- und entwicklungsentsprechend an der Planung und Ausgestaltung der einzelnen Hilfen beteiligt und ihre Sorgeberechtigten intensiv in Planung und Gestaltung der Hilfen einbezogen. (§ 4, Abs. 3)
Leistungen für behinderte Kinder sind sowohl im SGB XII (§ § 53 ff.) wie auch im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, § 22) weiter geregelt. Die konkrete Ausgestaltung erfolgt jedoch in Landesgesetzen und einzelnen Rechtsverordnungen, die von Bundesland zu Bundesland variieren. Grundsätzliche Übereinstimmung besteht, dass in einer integrativen Gruppe eine zusätzliche pädagogische Fachkraft – nach Möglichkeit mit heil- oder sozialpädagogischer Ausbildung – einzusetzen und eine begleitende Förderung bzw. therapeutische Unterstützung vorzusehen ist. Die rechtlichen Regelungen für die Finanzierung von integrativen Kindertageseinrichtungen und Einzelintegrationsmaßnahmen differieren in den einzelnen Bundesländern. Die KiTas erhalten in der Regel einen erhöhten Fördersatz für die Aufnahme eines Kindes, bei dem die zuständigen Jugendämter einen erhöhten Unterstützungsbedarf anerkennen. Die Höhe dieses erhöhten Fördersatzes variiert von Bundesland zu Bundesland. In Bayern beträgt er z. B. das 4.5 fache des regulären Fördersatzes.
Im Jahre 2017 besuchten nach den statistischen Daten der Bundesregierung zur Bildungsberichterstattung 63.961 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine allgemeine KiTa (davon 45 % als Maßnahme der Einzelintegration) und 20.588 Kinder eine Sondereinrichtung. Das bedeutet eine Inklusionsquote von 72 % in Bezug auf alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
1.2.3 Versorgungsrate in den einzelnen Bundesländern
Bei einer differenzierten Betrachtung ist zu erkennen, dass in den meisten Ländern das Schwergewicht der Förderung behinderter Kinder bei den integrativen Betreuungsformen liegt. In der Statistik werden dabei alle Kinder als inklusiv betreut gezählt, die Gruppen besuchen, in denen weniger als 50 % der Kinder einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben. Das sind in den meisten Bundesländern über 80 % der Kinder mit besonderem Förderbedarf. 45 % der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf wurden in Gruppen betreut, in denen weniger als 20 % einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben. Tab. 1 zeigt die regionale Verteilung auf der Basis der Daten der Bildungsberichterstattung 2014. In jenem Jahr lag die Inklusionsquote bundesweit bei 67 %. In den folgenden vier Jahren stieg sie auf 72 %.
Nach diesen statistischen Daten lag in Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern die Inklusionsquote noch unter 50 %. In diesen Bundesländern wurde somit – und wird bis heute – die Mehrzahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf weiterhin in Heilpädagogischen Kindergärten, Sonderkindergärten oder Schulvorbereitenden Einrichtungen betreut, die den Förderzentren angegliedert sind.
Tab. 1: Anteil der inklusiv betreuten Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf
%
Trotz der deutlichen Zunahme integrativer Betreuungsformen im Kindergartenbereich ist auch dort Skepsis hinsichtlich der Qualität der Integrationsbedingungen geboten. Nicht selten wurde beim Ausbau der gemeinsamen Förderung eine Einschränkung der Rahmenbedingungen in Kauf genommen, die mit Finanzierungsproblemen begründet wurde. Das führte dazu, dass zwar heute viele Kinder mit Behinderungen in allgemeine KiTas integriert sind, die Gruppe jedoch oft zu groß und Zahl und Qualifikation des Personals in den Gruppen nicht immer zufrieden stellend sind.
Nicht selten werden auch allgemeine KiTas als inklusiv geführt, ohne konzeptionelle Überlegungen damit zu verbinden, welche pädagogischen Maßnahmen in heterogenen Gruppen nötig sind, um den Bedürfnissen des behinderten Kindes im Gruppengeschehen gerecht zu werden; oder es findet eine systematische Förderung des Kindes lediglich außerhalb seiner Gruppe und losgelöst vom Gruppenalltag statt, was letztendlich eher eine soziale Entfremdung der Kinder untereinander bewirkt. Es ist eben nicht damit getan, Kinder zusammen in einer Gruppe zu betreuen, ohne darauf zu achten, wie sich der Umgang der Kinder miteinander entwickelt (Kron, 2006).
1.2.4 Umfassende Veränderung von Strukturen und pädagogischen Konzepten in Kindestageseinrichtungen als Voraussetzung
Eine gemeinsame Bildung und Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderungen bedeutet eine Veränderung des pädagogischen Konzepts der KiTa als Ganze. Integrative Pädagogik erschöpft sich nicht darin, dass die Kindergärten für behinderte Kinder geöffnet und mit einem Türschild »inklusive Einrichtung« versehen werden. Sie erfordert beharrliche Bemühungen um eine Weiterentwicklung von pädagogischen Grundhaltungen, personeller Ausstattung und pädagogischen Konzepten. Behinderung ist eben nicht – zumindest nicht primär – ein rein soziales Phänomen nach dem Motto »Behindert ist man nicht, sondern wird man«, sondern sie bedeutet bei Sinnes-, Körper-, Sprach- oder geistiger Behinderung einen objektiven Hilfebedarf für die Bewältigung sozialer Anforderungen.
Das richtungweisende Handbuch des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2008) formuliert unter dem Titel »Auf den Anfang kommt es an!« Empfehlungen für die Professionalisierung der Fachkräfte und die Berücksichtigung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Die Autoren betonen, dass das Gelingen sozialer Integration eine gemeinsame Integrationsphilosphie voraussetzt, nach der behinderte Kinder ein Recht auf volle Teilhabe haben. Es erfordert eine Gruppenzusammensetzung, die von Vielfalt geprägt ist, geeignete Räumlichkeiten und Materialien sowie eine Individualisierung von Lehr-Lern-Prozessen in Alltagssituationen und im Spiel.
Diese Empfehlungen sind bei weitem noch nicht überall verwirklicht. So stellten z. B. Wiedebusch, Lohmann, Tasche, Thye und Hensen (2015) in einer Analyse der pädagogischen Konzeptionen von 112 Einrichtungen in Niedersachsen fest, dass nur in 9,8 % der Konzeptionen der Begriff »Inklusion« verwendet wurde und in weniger als der Hälfte der Konzeptionen die Bedürfnisse von Kindern mit Beeinträchtigungen angesprochen wurden.
Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die Gruppe der Kinder, die in inklusiven Einrichtungen betreut werden, sehr heterogen ist. Amtliche Daten, die nach spezifischen Beeinträchtigungen differenzieren, liegen für Deutschland nicht vor. Im Jahr 2012 führte das Deutsche Jugendinstitut jedoch eine repräsentative Befragung bei KiTas durch, an der sich 1634 Einrichtungen beteiligten. 647 Einrichtungen gaben an, dass mindestens ein Kind mit Behinderung betreut wird. Bezogen auf die Gesamtzahl der betreuten Kinder hatten je 1,6 % der Kinder einen besonderen Unterstützungsbedarf im Bereich des Verhaltens oder des Spracherwerbs, 1,5 % im Bereich der kognitiven Entwicklung, 1,0 % im Bereich der motorischen Entwicklung, 0,3 % eine Hörbehinderung und 0,2 % eine Sehbehinderung (Gadow, Peucker, Pluto, Santen & Seckinger, 2013).
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