In einigen Bundesländern wurden bestehende Sondereinrichtungen gänzlich aufgelöst, sodass den Eltern gar keine Alternative zur Anmeldung im allgemeinen Kindergarten bleibt. Ihnen wird dann geraten, mit der Anmeldung eine individuelle Assistenzkraft (Integrationshelfer) zu beantragen, die als Einzelfallhilfe nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs im Rahmen der Eingliederungshilfe finanziert werden kann. Die Leistungen können nur kindbezogen, d. h. als individuelle Leistung nach § 53/54 des SGB XII für Kinder mit geistigen, körperlichen oder mehrfachen Behinderungen, bzw. nach § 35a des SGB VIII für Kinder mit seelischer Behinderung gewährt werden. Alternativ können sie innerhalb des »persönlichen Budgets« nach dem Bundesteilhabegesetz finanziert werden. In anderen Bundesländern (z. B. Baden-Württemberg und Bayern) gehört die Betreuung in Sondereinrichtungen dagegen auch heute noch zum festen Repertoire der Kindertagesbetreuung behinderter Kinder.
1.2 Regionale Entwicklung der Integration in Deutschland
Integration von Kindern mit Behinderungen im Elementarbereich ist weltweit seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Thema. In den USA wurden zu dieser Zeit erste Modellprojekte durchgeführt, bei denen Kinder mit Behinderungen in Vorschulgruppen aufgenommen wurden (»mainstreaming«). Seit 1986 besteht dort ein Rechtsanspruch auf Aufnahme in eine möglichst wenig einschränkende, d. h. integrative Umgebung, wenn dies den Bedürfnissen des Kindes entspricht.
In der Folge dieser Entscheidung nahm die Zahl der Einrichtungen, in denen zumindest einzelne Kinder mit Behinderungen betreut wurden, stetig zu. Allerdings handelte es sich dabei überwiegend um Kinder mit leichteren kommunikativen und kognitiven Behinderungen (Odom & Diamond, 1998). Entgegen dem offiziell verkündeten Konzept einer weitgehenden Inklusion ist aber auch die USA noch weit von der Verwirklichung einer durchgehenden gemeinsamen Erziehung und Bildung behinderter und nicht behinderter Kinder entfernt. In der amerikanischen Praxis gilt ein Kind bereits als »inkludiert«, für das im individuellen Bildungsplan eine Beteiligung von 20 % der Schulzeit am Unterricht in der Regelklasse als möglich betrachtet wird. Landesweite Statistiken zeigen, dass bei der Hälfte aller Kinder mit geistiger Behinderung oder Autismus und einem Viertel der Kinder mit Hörschädigungen oder Körperbehinderungen zumindest im Schulalter mehr als 60 % des Unterrichts weiterhin in separierten Klassen stattfindet (Willmann, 2008).
1.2.1 Erfahrungen und Materialien für die Praxis aus Begleitforschungen von Modellprojekten
In verschiedenen deutschen Bundesländern wurden in den Jahren zwischen 1980 und 1990 mehrere Modellprojekte zur Integration behinderter Kinder in Kindergärten durchgeführt und wissenschaftlich begleitet. Vor allem die folgenden zwei Fragen standen dabei im Vordergrund:
1. Unter welchen strukturellen Bedingungen ist integrative Erziehung überhaupt realisierbar?
2. Welche Erfahrungen machten die pädagogischen Fachkräfte und Eltern im Rahmen solcher Modellversuche?
Daraus sind eine Reihe von Praxisberichten, Auswertungen und Materialien für die Umsetzung von Integrationskonzepten entstanden (z. B. Dichans, 1990; Klein, Kreie, Kron & Reiser, 1987; Miedaner, 1986;). Die Gruppen, über die dabei berichtet wurde, waren zwar in der Regel relativ klein und in ihrer Zusammensetzung sehr heterogen. Dennoch enthalten viele dieser Forschungsberichte wertvolle, ausführliche Beobachtungen einzelner Kinder, aus denen Bedingungen für eine gelingende Integration abgelesen werden können.
So stellten Kniel und Kniel (1984) differenzierte Beobachtungen zu sozialen Kontakten in integrativen Gruppen in Kassel vor. Sie unterschieden verschiedene Statusgruppen und fanden, dass behinderte Kinder häufiger als nicht behinderte Kinder allein spielten oder im Kontakt mit einer Erzieherin, seltener im Kontakt mit anderen Kindern waren.
Klein et al. (1987) analysierten das hessische Projekt »Integrative Prozesse in Kindergartengruppen«, das von 1982-1985 in drei Kindergärten durchgeführt wurde. In fokussierten Interviews mit den Trägern der Einrichtung, der Elternschaft, der Leitung der Kindergärten und den Erzieherinnen sowie durch teilnehmende Beobachtung in den Gruppen konnten verschiedene Formen der Kontaktaufnahme und Interaktionsmuster zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern herausgearbeitet, Einstellungen der Erzieherinnen und Erfahrungen der Eltern reflektiert werden. In dieser Studie zeigten sich große individuelle Unterschiede in den sozialen Beziehungen. Während einige behinderte Kinder in engem Kontakt mit nicht behinderten Kindern waren, blieben andere deutlich auf Distanz. Beide Untersuchungen machten somit deutlich, dass sich befriedigende soziale Beziehungen zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern nicht durch die Aufnahme in eine integrative Gruppe von allein einstellen, sondern in vielen Fällen von pädagogischer Unterstützung abhängig sind.
Am bayerischen Modellversuch »Gemeinsame Förderung behinderter und nicht behinderter Kinder im Elementarbereich« (Hüffner & Mayr, 1989) nahmen 15 Kindergärten teil. Im Mittelpunkt stand die Beobachtung des kindlichen Kontakt- und des Erzieherverhaltens. Fortbildungsveranstaltungen dienten dazu, den Erzieherinnen behinderungsspezifische Kenntnisse zu vermitteln und sozialintegrative Prozesse anzuregen.
In Nordrhein-Westfalen wurde ein Modellversuch in 19 Kindergartengruppen mit themenzentrierten Arbeitskreisen und teilnehmender Beobachtung in typischen Alltagssituationen in der Gruppe evaluiert (Dichans, 1990). Der dortige situationsbezogene Ansatz der Kindergärten erwies sich als tragfähig, um auf die spezifischen Bedürfnisse der Kinder im Tagesablauf flexibel einzugehen, eine differenzierte pädagogische Planung und zeitlich-räumliche Organisation war aber notwendig für das Gelingen integrativer Prozesse. Heimlich (1995) untersuchte speziell die Spielprozesse in integrativen Gruppen und fand, dass behinderte Kinder vor allem im ersten Jahr ihres Gruppenbesuchs auf die Unterstützung der Erzieherinnen angewiesen waren, um zu kooperativen Spielformen in der Gruppe zu kommen.
Miedaner (1987) legte im Auftrage des »Deutschen Jugendinstituts« eine Bestandsaufnahme auf der Basis von ausführlichen Interviews in 30 Einrichtungen vor, die zu diesem Zeitpunkt die gemeinsame Erziehung, Bildung und Betreuung behinderter und nicht behinderter Kinder in ihrem Konzept verankert hatten. Bei den Interviews standen Fragen nach der sozialen Herkunft der Kinder, den räumlichen Bedingungen der Einrichtung, der Situation der Mitarbeiter, den Finanzierungsmodi, dem pädagogischen Konzept, der Elternmitarbeit und Erfahrungen und Probleme bei der Integration im pädagogischen Alltag im Mittelpunkt. Daraus ergaben sich erste Richtlinien für die Gruppengröße und die Zusammensetzung von integrativen Gruppen, die allgemein anerkannt wurden. Integrative Gruppen sollten nicht mehr als 15 Kinder umfassen, davon maximal fünf Kinder mit Behinderung, mindestens eine Doppelbesetzung von Erzieherinnen sei für solche Gruppen vorzusehen.
1.2.2 Stetige Zunahme der Zahl der Einrichtungen mit inklusivem Selbstverständnis
Die positiven Berichte über die Modellprojekte führten zu einer raschen Zunahme der Anzahl der Einrichtungen mit einem integrativen Konzept. Die Daten aus vier aufeinanderfolgenden Berichten zur »Lage der Behinderten und Entwicklung der Rehabilitation« zeigten z. B., dass 1989 lediglich 160 Kindergärten im Bundesgebiet ein integratives Konzept verfolgten. Fünf Jahre später waren dies bereits 560 Einrichtungen, hinzu kamen 780 Kindergärten, in denen Einzel-Integrationsmaßnahmen vollzogen wurden. Dem standen 946 Sonderkindergärten (mit insgesamt 20 800 Plätzen) gegenüber. Laut einer Länderbefragung hatten 1997 dann schon 41 % der Kinder mit Behinderungen einen Integrationsplatz im Kindergarten. Zwischen den Bundesländern gab es aber deutliche Unterschiede. Während in Bremen und Hessen nahezu alle behinderten Kinder allgemeine Kindergärten besuchten, waren es in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz gut zwei Drittel, in Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt nur etwa ein Drittel (Fegert & Frühauf, 1999).
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