1.1.2 »Integration« und »Inklusion« im internationalen Verständnis
Die Neuorientierung bei der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern mit Behinderungen fand ihren Niederschlag in verschiedenen internationalen Deklarationen und Vereinbarungen. Dabei sind die Begriffe »Integration« und »Inklusion« allerdings terminologisch nicht eindeutig definiert (Bürli, 2009). In der UN-Behindertenrechtskonvention, der Bundestag und Bundesrat im Dezember 2008 zugestimmt haben, wird z. B. im englischen Original von »Inklusion« gesprochen, in der amtlichen Übersetzung jedoch von »Integration«. Dabei sind nicht nur Kinder mit zusätzlichem sonderpädagogischem Förderbedarf gemeint, sondern auch Kinder mit Migrationshintergrund oder mit schwierigen Familiensituationen, die besonderer Unterstützung bedürfen. In Artikel 24 der Konvention wird dann allerdings für den Bereich der Bildung festgelegt, dass keine Behörde ein Kind unter Hinweis auf eine Behinderung vom Bildungssystem ausschließen darf und angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden müssen, darunter wirksame, individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet. Von Seiten der Behindertenverbände und der Bundesarbeitsgemeinschaft »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen« wird aus dieser Formulierung in einer sogenannten »Schattenübersetzung« der Deklaration deshalb die Forderung abgeleitet, dass alle Kinder in allgemeinen Kindergärten und Schulen in heterogenen Lerngruppen der Vielfalt der Begabung entsprechend gefördert und unterrichtet werden müssen.
Auch die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) hat auf dem Weltkongress über »Bildung bei besonderem Förderbedarf – Zugang und Qualität« in Salamanca 1994 in diesem Zusammenhang richtungweisende Aussagen gemacht. Danach sind alle Kinder ohne Rücksicht auf ihre physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, religiösen, ethnischen, sprachlichen Voraussetzungen in die allgemeine Schule aufzunehmen, es sei denn, es gebe schwerwiegende Gründe für eine andere Entscheidung. Integrativer Unterricht hat den unterschiedlichen Lern- und Förderbedürfnissen der Kinder zu entsprechen, sich den verschiedenen Lernstilen und Lerngeschwindigkeiten anzupassen, allen eine qualitativ gute Bildung zu garantieren, und dies durch geeignete Curricula, organisatorische Arrangements, Unterrichtsstrategien, Inanspruchnahme von Ressourcen und ein Kontinuum von Stütz- und Förderangeboten sicher zu stellen. Die Versetzung in eine Sonderschule soll nur bei einer kleinen Minderheit geschehen, bei denen klar erwiesen ist, dass sie nicht in geeigneter Weise im Regelschulbereich gefördert werden können.
1.1.3 Reformentwicklung in Deutschland
Ungeachtet internationaler Trends und Vorgaben sind integrative Konzepte innerhalb Deutschlands bisher immer noch sehr unterschiedlich entwickelt. Die Integrationsquote ist weitaus niedriger als in einigen vergleichbaren Ländern. Der Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Gesamtzahl der Schüler variiert in den einzelnen Bundesländern zwischen 5,3 % und 8,3 %. 2 2 https://www.bertelsmann-stiftung.de/…/Studie_IB_Klemm-Studie_Inklusion_2015.pdf 3 https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_IB_Unterwegs-zur-inklusiven-Schule_2018.pdf
Den größten Anteil daran haben Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen (38,8 %), gefolgt von Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (16,0 %) und emotionale und soziale Entwicklung (15,2 %). Von allen Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchten im Schuljahr 2015/16 39,3 % eine allgemeine Schule. 3 3 https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_IB_Unterwegs-zur-inklusiven-Schule_2018.pdf
Der Anteil der inklusiv beschulten Kinder mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, Hören, Sehen und Körperliche und motorische sowie emotionale und soziale Entwicklung liegt dabei zwischen 30 % und 50 %. Von den Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung werden nur 7,9 % inklusiv unterrichtet.
Inklusion von Kindern mit Behinderungen ist zu einem zentralen Thema der bildungspolitischen Debatte geworden. An vielen Orten werden mit großem pädagogischen Engagement Konzepte realisiert, die der Vision einer inklusiven Schule, die kein Kind abweist, sondern sich den Bedürfnissen der einzelnen Schüler nach individueller Förderung anpasst, nahekommen. Es fehlt jedoch an einer ausreichenden personellen und finanziellen Ausstattung der Schulen durch die Schulverwaltung und Bildungsministerien sowie einer fachlichen Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte, um eine flächendeckende Weiterentwicklung zu einem vollständig inklusiven Schulsystem zu ermöglichen.
In einigen Bundesländern wird das Etikett »Integration« auch missbraucht, indem die Integration auf administrative oder räumliche Zuordnungen beschränkt bleibt. Das Förderschulsystem wird dort zwar administrativ der allgemeinen Schulverwaltung unterstellt, Sonderklassen im Rahmen sogenannter Kooperationsmodelle räumlich in die Allgemeine Schule aufgenommen, die soziale Ausgrenzung der behinderten Kinder und Jugendlichen aus dem gemeinsamen Unterricht und Alltag aber nicht wirklich aufgehoben. Zudem wird den Eltern zwar eine Wahlfreiheit zugesichert, ob sie ihr Kind in einer allgemeinen Schule oder einer Förderschule anmelden möchten, die Aufnahme in einer allgemeinen Schule kann aber im Einzelfall dennoch abgelehnt werden. Diese Entscheidung wird dann damit begründet, dass keine ausreichenden finanziellen und personellen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um die nötige individuelle Förderung in der allgemeinen Schule sicher zu stellen.
1.1.4 Fortschritte im Elementarbereich
Im Elementarbereich haben dagegen in den letzten drei Jahrzehnten grundlegende strukturelle Veränderungen stattgefunden. Dort hat sich der Leitgedanke durchgesetzt, dass eine gemeinsame Förderung von Kindern mit und ohne Behinderungen – in Form der Einzelintegration im Regelkindergarten oder in integrativen Gruppen – anzustreben ist. Inklusion bedeutet, auf jegliche Form der Aussonderung zu verzichten, die Heterogenität der Kinder als Reichtum der Einrichtung zu betrachten und spezifische Unterstützungsmaßnahmen potenziell für alle Kinder vorzuhalten. Dies muss mit einer Umstrukturierung der Organisation der KiTa und einem Qualifikationsprozess auf der Ebene der Fachkräfte einhergehen (Heimlich, 2013). Inklusion bedeutet ausdrücklich nicht, die besonderen Bedürfnisse von Kindern aus belastenden Lebenslagen und mit erhöhtem Entwicklungsrisiko zu ignorieren. Vielmehr geht es darum, die pädagogische Praxis angemessen auf die besondere Situation dieser Kinder auszurichten und dabei allgemein-pädagogische Angebotsprofile mit heil- und sonderpädagogischem Spezialwissen zu vernetzen (Hansen, 2010).
Heute haben die Eltern eines Kindes mit Behinderung in nahezu allen Bundesländern die Möglichkeit, ihr Kind in eine integrative Gruppe oder in einen Regelkindergarten zu geben, wenn sie dies wünschen. Dementsprechend hat die Zahl der Kindertagesstätten, in deren Gruppen mindestens ein Kind mit einer Behinderung aufgenommen ist, in den letzten Jahren stetig zugenommen. Im Einzelfall kann ein Kindergarten dennoch eine Aufnahme ablehnen, wenn er sich nicht in der Lage sieht, den spezifischen Bedürfnissen eines Kindes (z. B. mit einer schweren und mehrfachen Behinderung) gerecht zu werden. Am häufigsten nennen die Einrichtungen nach den Ergebnissen der Befragung des Deutschen Jugendinstituts als Hindernisse für die Aufnahme fehlende Barrierefreiheit (41 %), mangelnde räumliche Ausstattung (45 %) der Einrichtung sowie fehlende Qualifikation des Personals für eine ausreichende Förderung eines Kindes mit Behinderung (33 %) (Pluto & van Santen, 2017).
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