2. Der Ausschluss der Zwangsvollstreckung ist in § 62 S. 2 MVG.EKD spezialgesetzlich geregelt, gilt aber gem. § 24 KiGG.EKD, wonach Vorschriften über staatliche Zwangsmaßnahmen nicht anwendbar sind, allgemein für das kirchengerichtliche Verfahren 7. Eine zwangsweise Durchsetzung kirchengerichtlicher Entscheidungen – so wird vertreten – sei auch meistens nicht erforderlich. Denn zumindest von den kirchenrechtlich verfassten Organen, die zu einer Leistung verurteilt würden, könne die selbstverständliche Befolgung der sie bindenden Gerichtsentscheidung erwartet werden 8.
In den Fällen, in denen die Kirche Gläubigerin eines Leistungsanspruchs sei, sei eine Vollstreckung ebenfalls meistens nicht erforderlich. So könne z. B. die einem Pfarrer oder Kirchenbeamten auferlegte Geldbuße schlicht dadurch vollzogen werden, dass die Bezugsstelle den geschuldeten Betrag von den Bezügen einbehalte; in gleicher Weise ließen sich auch alle sonstigen auf eine Geldleistung aus dem Dienstverhältnis, etwa auf Rückzahlung überzahlter Bezüge oder auf Schadensersatz, gerichteten Leistungsurteile durchsetzen 9.
Im Übrigen wird insbesondere für das Mitarbeitervertretungsrecht hinsichtlich von gegen die Dienststellen gerichteten Leistungsansprüchen der Mitarbeitervertretung auf die Mittel der kirchlichen Aufsicht verwiesen 10.
3. Gerade für das Mitarbeitervertretungsrecht besteht allerdings eine besondere rechtliche Situation; denn in den Verfahren vor den Kirchengerichten sind nicht nur Stellen der öffentlich-rechtlich organisierten Kirche, sondern aufgrund des sachlichen Geltungsbereichs des MVG.EKD auch die Einrichtungen der Diakonie (vgl. § 1 II MVG.EKD) Beteiligte, d. h. Antragsteller oder Antragsgegner. Eine „selbstverständliche Befolgung“ kirchengerichtlicher Entscheidungen kann in diesen häufig privatrechtlich organisierten Einrichtungen nicht ohne weiteres erwartet werden, wie die Praxis zeigt 11.
Das Problem der fehlenden Vollstreckbarkeit verliert nicht deshalb an Schärfe, weil alle Verstöße gegen Beteiligungsrechte oder Entscheidungen des Kirchengerichts, die sich in auf Angelegenheiten beziehen, in denen es um die Rechte einzelner Mitarbeiter geht (vgl. § 42 und § 43 MVG.EKD, § 46 lit. b), c), d) MVG.EKD), sich in einem Verfahren vor dem Arbeitsgericht nachteilig für den Dienstgeber auswirken 12. Dies gilt nämlich nicht bei Verstößen gegen Mitbestimmungsrechte in organisatorischen und sozialen Angelegenheiten (§ 40 MVG.EKD). Ferner stellt sich die Frage, wie die Mitarbeitervertretung ihr Recht auf Information (§ 34 MVG.EKD), etwaige Herausgabeansprüche oder Kostenübernahmepflichten des Dienstgebers nach § 30 MVG. EKD durchsetzen kann 13, wenn dieser sich weigert, einer ihn diesbezüglich verpflichtenden Entscheidung des Kirchengerichts nachzukommen.
Umgekehrt kann aber auch die Dienststelle Gläubigerin eines Leistungsanspruchs gegenüber der Mitarbeitervertretung bzw. eines ihrer Mitglieder sein, z. B. auf Herausgabe von gem. § 30 MVG.EKD überlassenen Sachen oder Unterlassung von Handlungen, die im Widerspruch zu den gesetzlichen Verpflichtungen stehen.
4. Die Durchsetzbarkeit kirchengerichtlicher Entscheidungen im Mitarbeitervertretungsrecht war noch im ausgehenden 20. Jahrhundert kaum Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. So wird diese Thematik anlässlich der „Essener Gespräche“ im Jahr 1984, zu denen sich damals im Staatskirchenrecht und kirchlichen Arbeitsrecht führende Wissenschaftler, aber auch Theologen trafen, um über das „Arbeitsrecht in der Kirche“ zu diskutieren 14, weder in dem zur Aussprache gestellten Fachvortrag „Aktuelle kollektivrechtliche Fragen des kirchlichen Dienstes“ 15noch in der sich anschließenden Diskussion 16selbst angesprochen.
Anders verhält es sich gut zwanzig Jahre später bei der 8. Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht in Eichstätt 2005 zum Thema „Effektive Arbeitsgerichtsbarkeit im Mitarbeitervertretungsrecht und im Dritten Weg“ 17. Von einigen Referenten wird die Effektivität kirchlichen Rechtsschutzes wegen der mangelnden Durchsetzbarkeit kirchengerichtlicher Entscheidungen in Frage gestellt 18. Seitdem ist die Forderung nach einem effektiven Rechtsschutz im Mitarbeitervertretungsrecht, der auch die notfalls zwangsweise Durchsetzung der vom Kirchengericht dem Gegner verbindlich auferlegten Leistungspflicht umfassen soll, nicht verstummt 19. Auch der KGH.EKD spricht von der „Unvollkommenheit“ des kirchlichen Rechtsschutzes aufgrund der fehlenden Vollstreckbarkeit 20.
Von daher stellt sich die Frage, ob diese „Unvollkommenheit“ aus kirchenrechtlichen oder staatskirchenrechtlichen Gründen von den Betroffenen hingenommen und damit auf einen substantiellen Rechtsschutz im Mitarbeitervertretungsrecht letztlich verzichtet werden muss 21.
5. Ein substantiellen Rechtsschutz zählt zu den rechtsstaatlichen Erfordernissen. Er umfasst nicht nur ein gerichtliches Erkenntnisverfahren; vielmehr müssen ein Vollstreckungsverfahren und die Möglichkeit eines vorläufigen Rechtsschutzes hinzukommen 22, d. h. die Rechtsdurchsetzung muss in letzter Konsequenz unter Anwendung auch physischer Gewalt sichergestellt werden können 23.
Damit ergeben sich im Hinblick auf einen substantiellen Rechtsschutz im Verfahren vor den für das Mitarbeitervertretungsrecht zuständigen Kirchengerichten zwei grundsätzliche Fragen:
Ist die Anwendung von in letzter Konsequenz physischem Zwang, um Rechtsdurchsetzung innerhalb der Kirche sicherzustellen, mit dem christlichen Selbstverständnis vereinbar 24?
Und: Kann durch den Staat im Mitarbeitervertretungsrecht – sollte die Kirche Rechtspositionen in diesem Bereich weder zwangsweise durchsetzen wollen noch durchsetzen können – die notfalls zwangsweise Rechtsdurchsetzung sichergestellt werden, ohne dabei das verfassungsmäßig garantierte Selbstbestimmungsrecht der Kirche (§ 140 GG i. V. m § 137 III WRV) zu beeinträchtigen 25?
1 Bohnenkamp, in: Berliner Kommentar zum MVG.EKD, § 62 Rn. 4; Fey/Rehren, MVG.EKD, § 62 Rn. 7.
2 Baumann-Czichon/Gathmann, Kirchliche Mitbestimmung im Vergleich, S. 51.
3 So werden arbeitsgerichtliche Urteile und Beschlüsse nach den Vorschriften des 8. Buchs der ZPO vollstreckt (§§ 46a I, 62 II, 85 ArbGG mit Besonderheiten); dieses gilt sinngemäß auch für die Vollstreckungstitel der Sozialgerichte zugunsten einer Privatperson (§§ 198, 199 ff.SGG mit Einzelheiten), die Entscheidungen der Finanzgerichte gegen den Bund, ein Land, einen Gemeindeverband, eine Gemeinde, Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts (§ 151 FGO) und die Titel der Verwaltungsgerichte zugunsten einer Privatperson (§§ 167, 168 ff.VwGO mit Besonderheiten). Nach den Vorschriften der AO bzw. der Verwaltungsvollstreckungsgesetze richtet sich die Vollstreckung zugunsten der öffentlichen Hand von Entscheidungen der Sozialgerichte (§ 200 SGG), Finanzgerichte (§ 150 FGG) und Verwaltungsgerichte (§ 169 VwGO).
4 Kroppenberg, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, § 704 Rn. 4; Zöller/Seibel, ZPO, § 4 Rn. 3.
5 ErfKom/Koch, § 85 ArbGG Rn. 1 für Beschlüsse im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren.
6 ErfKom/Koch, § 85 ArbGG Rn. 1 für Beschlüsse im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren; Kroppenberg, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, § 704 Rn. 3; Zöller/Seibel, § 704 Rn. 2.
7 Kirchengerichtsgesetz der Evangelischen Kirche in Deutschland (KiGG.EKD) v. 6. November 2003 (ABl. EKD 2003 S. 408, 409), zuletzt geändert durch Kirchengesetz v. 12.11.2014 (ABl.EKD 2014 S. 366).
8 Maurer, ZevKR 17 (1972), 48, 86; Schilberg, Rechtsschutz und Arbeitsrecht, S. 167; Germann, Die Gerichtsbarkeit, S. 430.
9 Germann, Die Gerichtsbarkeit, S. 431.
Читать дальше