»Doch, ich möchte noch nach Usedom fahren, mir war wichtig, erst noch die Kampagne mit der neuen Creme ins Laufen zu bringen. Sie kennen mich doch, ich beiße mich an so etwas fest und vergesse darüber, dass man auch mal entspannen muss. Sowie das erledigt ist, packe ich meine sieben Sachen und bin weg. Sie haben recht, ich werde das gleich fix machen, sonst komme ich nie hier raus.« Susanne lächelte und ging eilig in ihr Büro, dabei ließ sie die Tür zu ihrem Vorzimmer offen. Jeder Luftzug, und war er auch noch so schwach, brachte ein wenig Abkühlung. Das moderne, großzügige Büro mit seinen bodentiefen Fenstern drückte eine schlichte Eleganz aus. Dicker Teppichboden schluckte jedes störende Geräusch, und eine kleine Sitzgruppe in der Ecke lud zum Verweilen ein. Auf ihrem gläsernen Schreibtisch herrschte das Chaos. Sie drückte auf ihrem Telefon die Schnellwahltaste und schaltete den Lautsprecher ein, damit sie während des Telefonats mit ihrem Mann einige Unterlagen sortieren konnte. Nach dreimaligem Signalton meldete er sich:
»Was gibt es denn?« Seine Stimme klang deprimiert. Susanne hoffte, mit ihrem Telefonat seine Stimmung ein wenig aufzubessern:
»Schatz, Frau Krüger hat mich gerade daran erinnert, dass wir ja eigentlich wieder nach Usedom fahren wollten. Was meinst du? Wenn das Hotel ein Zimmer frei hat, könnten wir doch morgen Mittag losfahren, oder?« Susanne hörte, wie Dirk tief einatmete und dann sehr ungehalten in den Hörer brüllte: »Glaubst du, ich kann in der Situation, in der ich mich befinde, in Urlaub fahren? Mir steht das Wasser bis zum Hals. Ich habe andere Sorgen. Ich fahre heute Abend noch in die Schweiz. Wenn du nicht so unsensibel wärst, würdest du so etwas nicht vorschlagen.« Sie hörte nur noch ein Klicken, er hatte aufgelegt.
In der Bahnhofshalle war es etwas kühler als auf der Straße. Frank Hattinger sah sich um. Menschen aller Herren Länder waren an diesem Ort versammelt. Reisende, die noch einen Kaffee trinken wollten, bevor sie mit ihrem Koffer zum Zug eilten, Büroangestellte mit ihrem Aktenkoffer in der Hand. Roma-Mädchen liefen mit Leidensmiene von Passant zu Passant, um ein paar Euro zu erbetteln. An den Tischen einer bekannten Fast-Food-Kette sah sich eine alte Frau mit abgewetzter, aber sauberer Kleidung auf den Tischen um, ob vielleicht jemand eine Pfandflasche oder auch etwas zu essen hatte liegen lassen. Die Welt hier draußen war eine andere geworden. Glaubte er es nur, oder war es tatsächlich so, dass es viele arme Menschen in Frankfurt gab? Sein Kaffeebecher war leer, und er suchte mit seinem Smartphone die Adresse eines Internet-Cafés in der Nähe. Nach kurzer Zeit hatte er eines in der Speyerstraße gefunden. Das war gleich um die Ecke. Er zog sich das Basecap von Thomas Enders tiefer ins Gesicht und verließ den Bahnhof. Mit dieser hässlichen Kappe würde ihn so schnell niemand erkennen. Seine Laune konnte nicht besser sein, als plötzlich sein Handy klingelte. Auf dem Display erschien der Name seines Rechtsanwalts Doktor Kriebel.
»Guten Morgen, Herr Hattinger, gut, dass Sie ans Telefon können. Wie ist der erste Tag in der Schule?« Kriebels sonore Stimme klang freundlich.
Frank Hattinger fühlte sich ertappt. Er spürte, wie sein Gesicht rot wurde. Schnell sagte er: »Gut ist die Schule. Gut. Ich bin mir sicher, das schaffe ich.« War es die Hitze oder schwitzte er aus Angst plötzlich so.
»Weshalb ich Sie anrufe: Falls es irgendwo Schwierigkeiten gibt, melden Sie sich bitte sofort bei mir. Sie wissen, ich habe gute Beziehungen zur Vollstreckungskammer. In der Anstalt ist man ja nicht ganz so glücklich darüber, dass Sie täglich den geschlossenen Vollzug verlassen. Also bitte, wenn was sein sollte, rufen Sie umgehend an.«
Hattinger vernahm noch ein Räuspern und sagte dann schnell: »Geht klar, Herr Kriebel. Ich melde mich.« Er sah auf sein Handy. Kriebel hatte aufgelegt. Hattinger war einigermaßen durcheinander. Mit einem Anruf seines Anwalts hatte er am wenigsten gerechnet.
Im Internet-Café angekommen, fing er an, in den einschlägigen Kontaktbörsen nach einer Bekanntschaft für schnellen Sex zu suchen. Seine frühere Suche auf dem Straßenstrich konnte er vergessen. Die Gefahr, in eine Polizeikontrolle zu kommen, war zu groß.
Er suchte nach einem zarten Jungen, der für alles offen war. Schon beim Öffnen mancher Profile wurde er ganz geil. Viele hübsche Gesichter sahen ihn an, die Boys waren mit nacktem Oberkörper zu sehen, manche hatten ihre geilen Hintern fotografieren lassen. Er sah auf die Uhr, die Zeit verging im Netz viel zu schnell. Die Chance, noch einen Lover zu finden, der sich mit ihm sofort in einem Hotel für einen schnellen Fick traf, war gering. »Das muss man auch wieder vorbereiten, vielleicht doch besser unauffällig im Bahnhof nach einem Jungen Ausschau halten«, murmelte er vor sich hin. Er wechselte die Internetseite und sah sich die aktuellen Social Media Seiten an. Facebook gefiel ihm, und er meldete sich unter einem Nickname an. Als Foto nahm er das eines Pferdes, welches er sich vorher aus dem Netz heruntergeladen hatte. Er versuchte sein Glück bei den Foren der Fans von Eintracht Frankfurt und anderen Fußballvereinen. In diesen Foren findet man bestimmt geile Jungs, dachte er. Beim Blick auf die Uhr erschrak er. In wenigen Minuten musste er sich schon wieder auf den Weg nach Dieburg machen. Keinesfalls durfte er zu spät kommen. Er schloss alle Seiten im Computer, setzte sein Basecap wieder auf, ging zum Tresen und bezahlte. Vor der Tür war die Stadt voller Leben, und die Innenstadt von Frankfurt hatte sich enorm aufgeheizt. Die Sportjacke lässig über die Schulter geworfen, ließ er die Sonne auf seine muskulösen Arme scheinen. Unterwegs schrieb er Thomas Enders eine SMS. Nach einigen Minuten antwortete dieser, dass alles glatt gelaufen sei. Jeder hielte ihn für Frank Hattinger, kein Problem. Und die Schule sei ein Witz.
Marias Ehrgeiz war geweckt. Wem gehörten diese Sportschuhe? Es ließ ihr keine Ruhe. Sie schloss Zelle für Zelle auf und sah nach.
Hausarbeiter Savic, der Maria immer genau bei ihrer Arbeit beobachtete, wunderte sich: »Frau Saletti, heute übertreiben Sie es aber mit den Zellenkontrollen. Lassen Sie noch ein paar für Ihre Kollegen übrig.« Er stand im Türrahmen und zwinkerte ihr zu.
»Sag mal, Savic, du kannst mir bestimmt sagen, wer hier drin Nike Sportschuhe hat, oder?« Maria sah ihn fragend an.
»Wieso interessieren Sie sich für die Sportschuhe von den Idioten hier drin?«, dann sah er sich um, kam näher und sagte ganz leise: »Die Schuhe, die sie bei Kurz in der Zelle gefunden haben, sind nagelneu. Der Hattinger ist vor Kurzem mit den Dingern hier zum Sport. Aber von mir haben Sie das nicht.« Savic drehte sich um, nahm seinen Schrubber und wickelte den Putzlappen darum. Er sah sie bedeutungsvoll an und wischte dann weiter den Stationsflur.
Jan Gerber stand wenige Minuten später in Marias Büro: »Der Kollege vom Werkbetrieb hat angerufen. Der Kurz hat gerade gesagt, er hätte Angst vor Frank Hattinger.«
»Das passt. Savic hat mir gesteckt, dass die Schuhe Hattinger gehören. Aber was hat der mit Heroin am Hut? Der hat doch gar nichts mit Drogen zu tun?« Maria setzte sich kurz auf den Stuhl.
»Der Hattinger ist bekanntermaßen schwul. Er hat all die Jahre, in denen er im Knast saß, sicherlich nicht keusch gelebt, oder? Irgendeiner wird hier drin mit ihm schon Sex haben. Wer könnte das sein?« Gerber hatte sich mit seinem Stuhl umgedreht und sah Maria fragend an.
»Da kommt eigentlich nur der Ribeiro infrage.«
Jan öffnete im Computer eine Seite. »Und bei der letzten Urinkontrolle war Ribeiro auch positiv auf Heroin.«
Maria schnappte sich ihren Rucksack. »Dann wird er den Ribeiro ab sofort gut mit Stoff versorgen können. Er ist ja seit Kurzem fast täglich im Ausgang.«
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