»Herr Hattinger, Sie müssen pünktlich um 17 Uhr wieder in der Anstalt sein.« Sie stand vor ihm und blickte direkt in seine kalten, wässrig blauen Augen. Hattinger bedachte sie mit einem abwertenden Blick, nickte, blieb stoisch stehen und wartete, bis Maria ihm den Weg freigab. Der Summer der Türentriegelung ertönte, und mit einem süffisanten Lächeln trat er aus der Anstalt auf die Straße. Völlig entspannt und hoch erhobenen Hauptes schlenderte er in Richtung Bushaltestelle An der Schießmauer. Maria sah ihm nachdenklich hinterher. Da vernahm sie eine Stimme aus einer Ecke der Pforte.
»Wenn der heute um 17 Uhr nur eine Minute überfällig ist, schreibe ich ihn zur Fahndung aus.« Jan Gerber, der Sicherheitsdienstleiter der Anstalt, stand neben einem Schrank in der Pforte und folgte Hattinger ebenfalls mit seinem Blick.
»Guten Morgen, Jan, wusste gar nicht, dass du schon da bist.« Er antwortete nicht und war scheinbar in Gedanken versunken. Ihr Bereichsleiter hatte sie ein Jahr zuvor bei dem Angriff in der Zelle befreit, und Maria stellte fest, dass sie seit diesem Zwischenfall gerne seine Nähe suchte. Jan schaffte es durch seine Mut machende Art immer wieder, dass sie die oft an ihr nagenden Selbstzweifel dahin beförderte, wo sie hingehörten: in den Müll.
»Der hat etwas Eiskaltes. Dem traue ich nichts Gutes zu. Ich habe noch nie gehört, dass ein wegen Totschlags Verurteilter nach neun Jahren im geschlossenen Vollzug so mir nichts dir nichts gelockert wird, ohne soziale Kontakte draußen. Kannst du mir das erklären, Jan? Ich dachte, damit man gelockert wird, muss ein ordentliches soziales Umfeld vorliegen. Ehefrau, Eltern oder so. Hat der Hattinger überhaupt jemanden?« Maria versuchte, eine Reaktion in Jans Gesicht zu deuten.
»Ja, ist mir auch unbegreiflich, besonders wenn du den Tathergang liest, da läuft es dir kalt den Rücken runter. Hattinger hat eine Prostituierte vom Balkon eines Hochhauses geworfen. Die Frau war auf der Stelle tot.« Jan sah nachdenklich aus dem Fenster.
»Wer einmal diese Grenze überschritten hat, wird es vielleicht noch einmal tun?« Maria schauderte es bei dem Gedanken.
Senior: Glaubst du, er ist der Richtige?
Bursche: Ich nehme heute Kontakt zu ihm auf. Ich bin zuversichtlich, dass er den Auftrag übernimmt. 20.000 ist eine schöne Summe und die Aufgabe nicht sonderlich schwer.
Frank Hattinger zog den Reißverschluss seiner Sportjacke noch etwas höher. Er sah aus, als wäre er auf dem Weg ins Fitnessstudio, lediglich die Knastblässe passte nicht zu diesem Outfit. Er ging mit großen Schritten zur Bushaltestelle. Einige Passanten standen schon dort, starrten vor sich hin oder schauten auf ihr Smartphone. Als Hattinger sein Handy anschaltete, ertönten viele Signaltöne. Einige SMS und WhatsApp-Nachrichten waren eingegangen.
Darunter befand sich auch eine SMS seines Kumpels Thomas Enders mit den Worten 7 Uhr, DA Hauptbahnhof. Sehr gut. Hattinger lehnte sich zufrieden zurück und lachte in sich hinein. Der Bus fuhr nur ein kurzes Stück durch Dieburg, um dann nach wenigen Minuten auf die Schnellstraße B26 abzubiegen. Eine seltsame Nachricht befand sich noch in seinem Posteingang: Du bist clever und möchtest mit wenig Arbeit Geld verdienen? Warte auf neue Informationen. Die SMS kam von einem Schweizer Anschluss. Er rief zurück, konnte aber lediglich einen Anrufbeantworter erreichen. Er nannte seinen Namen und sagte nur, er habe Interesse. Als er alle Neuigkeiten in seinem Handy gecheckt hatte, sah er sich ein wenig um. Der Bus war bis auf den letzten Platz besetzt. Müde Gesichter auf dem Weg zur Arbeit. Für Schüler war es um diese Zeit noch zu früh. Etwa 30 Minuten später stoppte der Bus am Eingang des Hauptbahnhofs in Darmstadt. Hattinger sprang leichtfüßig aus dem Bus und schlenderte in die Bahnhofshalle im Jugendstil, die erst kürzlich renoviert worden war. Es herrschte geschäftiges Treiben, und die verschiedenen Stände mit Croissants und Kaffee waren gut besucht. Er stellte sich vor den Zeitungsladen und hielt Ausschau nach Thomas Enders. Die vielen Leute hier und die Hektik, die alle ausstrahlten, stressten ihn. Vieles war nach neun Jahren anders. Das Tempo der Passanten war eindeutig schneller geworden. Oder kam es ihm nur so vor, als ob alle rannten? Einige quälende Minuten vergingen. Eine innere Stimme sagte ihm, dass es keineswegs sicher war, dass sein Kumpel kam. Wo blieb dieser Idiot nur? Er atmete auf, als er ihn in Richtung Bahngleise entdeckte. Mein Gott, war der fett geworden. Sie hatten fünf Jahre in der JVA Schwalmstadt zusammen ihre Haft abgesessen. Mit ihm auf Doppelzelle gab es nie Probleme. Er konnte die Schnauze halten, das hatte er damals schon bewiesen. Enders trug verwaschene Jeans, ein schwarzes T-Shirt und ein schwarzes Basecap mit der Aufschrift »Jungle Boy«. Vor Jahren war er eine beeindruckende Erscheinung gewesen. Bodybuilding machte er offensichtlich nicht mehr.
»Guten Morgen, du Träne, ich dachte schon, du kommst nicht.« Hattinger sah Thomas grimmig an und streckte ihm die Ghettofaust entgegen. Thomas zog seine rechte Augenbraue etwas in die Höhe und sah Frank entspannt in die Augen.
»Guten Morgen, Alter. Bist noch ein bisschen blass, geh mal unter den Toaster, so glaubt noch einer, du kommst aus dem Knast«, konterte er und lachte.
»Du musst pünktlich sein, sonst gibt es gleich Theater.« Hattinger riss Enders das Basecap vom Kopf. »Und lass dieses hässliche Teil von deinem Schädel. Damit siehst du ja aus wie ein Idiot.«
Die Miene von Enders verfinsterte sich. »Mann, ich glaube, du gehst mir schon jetzt auf die Eier. Wenn ich nicht so dringend das Geld bräuchte, könntest du mich mal …«, er sprach nicht aus, was er dachte.
»20 Euronen für heute und für jeden anderen Schultag, okay? So hatten wir es abgemacht.« Hattinger griff in seine Hosentasche und holte 20 Euro heraus. Er hielt sie Enders vor die Nase, als dieser sie greifen wollte, zog er sie blitzschnell zurück.
»Lass die Scheiße und gib die Kohle her.« Enders verlor langsam die Nerven. Hattinger gab ihm zögerlich das Geld, und Enders schüttelte nur den Kopf.
»Okay, wenn die Schule heute fertig ist, schicke ich dir ’ne SMS!« Enders drehte sich um und ging langsam in Richtung Innenstadt.
»Tommy, verarsch mich net«, rief Hattinger hinter ihm her. Diese Worte gingen fast im allgemeinen Lärm des Bahnhofs unter. Hattinger zog die Stirn in Falten.
»Würd’ ich niemals tun, bis Mittwoch dann, gleiche Zeit hier. Ich kann ja nicht jeden Tag hierher pilgern. Wenn die irgendwas Besonderes in der Schule wollen, sage ich dir sofort Bescheid. Vergiss am Mittwoch die Kohle nicht«, rief Enders. Kurz darauf war er in den Menschenmassen Richtung City verschwunden.
Ein wohliges Gefühl durchströmte Frank Hattinger. Wie lange hatte er darauf gewartet. Neun Jahre und drei Monate musste er das tun, was andere von ihm verlangten. Nun endlich konnte er einige wenige Stunden genießen. Auf Enders war Verlass, er würde ihn nicht hängen lassen.
Er entdeckte den Fahrplan, der nur wenige Schritte entfernt von ihm an der Wand hing, um die nächste Verbindung nach Frankfurt herauszusuchen. Alle 30 Minuten fuhr eine Bahn nach Frankfurt. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er noch etwas Zeit hatte. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee und warmen Croissants wehte ihm um die Nase. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und er hielt an einem Stand kurz an, kaufte sich ein Schokocroissant und einen Espresso. Wie hatte er das vermisst. Kurz darauf saß er im Zug und schaute aus dem Fenster, die Landschaft glitt ruhig an ihm vorbei, da erhielt er die nächste SMS.
Es war wieder die Telefonnummer aus der Schweiz: Außergewöhnliche Arbeit erbringt außergewöhnlich hohen Lohn!!! Kontakt über Darknet! Er stutzte. Wie war jemand an seine Telefonnummer gekommen? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, aber er antwortete: Bin interessiert!! In seinem Hirn ratterte es, wer konnte ihm diese SMS geschickt haben? Und was sollte er tun? Kurz darauf erhielt er den Code für das Darknet.
Читать дальше