Wie wir bereits sagten, das Eisen im Blut schafft Geistesgegenwart. Es erschwert das »Abwesendsein«, das Abheben, das Hinwegschweben unseres Bewusstseins in kosmische Fernen. Hier liegt die Begründung für den archaischen Glauben, dass man Heilpflanzen nicht mit einem metallenen Messer schneiden soll, denn das würde die »jenseitigen«, mit den Sternen verbundenen Heilkräfte blockieren. Hier liegt auch die Begründung des altkeltischen Glaubens, dass die Elfen und Pflanzengeister von Eisen vertrieben werden oder dass man Hexen mit Eisen abwehren kann – was anderes sind denn Hexen als die frei schwebenden Astralleiber von Menschen, die sich in Trance befinden, die »weg« oder abgehoben sind? In Tiefschlaf oder Trance gleichen wir den Pflanzen. Wir sind dann wie sie zwar physisch und ätherisch präsent, aber unser bewusster Geist und unsere empfindende Seele schweben »außerhalb«. Hätten wir statt Eisen Magnesium im Blut, dann kämen wir – wie die Pflanze – nie wieder zurück, wir blieben im vegetativen Zustand. Das Eisen aber hilft dem Geist, wieder in den Körper zurückzufinden.
Nun könnte man meinen, dass die Brennnessel, die sich dermaßen mit Eisen vollsaugt, ihr pflanzliches Dasein aufgeben und ebenfalls wach und tierhaft werden sollte. In gewissem Sinn tut sie das auch. Sie hat durchaus etwas tierhaftes (astralisches) an sich. Sie umgibt sich mit einem Pelz aus spitzen Nadeln, die mit Tiersubstanzen, ähnlich den Giften der Bienen und Ameisen, gefüllt sind. Diese Gifte wirken auch bewusstmachend – wir brauchen die Nessel nur zu berühren, und sofort sind wir wacher, sind wir »da«. Wir verlieren das pflanzliche, das himmlische Träumen und erfahren den Schmerz des irdischen Daseins.
Um Pflanze zu bleiben, um trotz des vielen Eisens, das sie aufnimmt, nicht einem tierischen Seinsmodus zu verfallen, greift die Brennnessel zu einem geeigneten Gegenmittel. Sie schützt sich, indem sie besonders viel Chlorophyll produziert. Sie stellt sozusagen dem roten Marsmetall die Macht des Magnesiums entgegen. Sie strotzt nur so vor lauter Blattgrün, mit dem sie die Sonnenkräfte in sich hineinzieht. Sie ist vom unteren Stängelbereich bis in die Blütenregion grün. Sie scheint derart mit dem Grünsein beschäftigt zu sein, dass ihr keine Lust und Laune bleibt, bunte Blüten hervorzubringen. Sie ist so reich an Blattgrün, dass der Chlorophyllbedarf von Handel und Industrie – Nahrungsmittelfarben, Zahnpasta, Mundwasser – vorzugsweise durch Brennnesseln gedeckt wird.
GEISTERPFLANZE
Naturverbundene Völker, die etwas von der archaischen Fähigkeit des außersinnlichen Wahrnehmens bewahrt haben, wie zum Beispiel die Zigeuner, die Hochlandschotten oder die »Spökenkieker« nahe der Nordseeküste, nehmen in der Umgebung von Brennnesselhorsten oft ungewöhnliche Erscheinungen wahr. Übersinnliche Energien, die manchmal als Geister, als Ahnen oder als Heinzelmännchen gedeutet werden, umweben und umschweben die Nesseln. Die Siebenbürger Zigeuner sprechen von kleinen Erdmännlein, die sie Pchuvuschen nennen. Die Brennnesselkolonien sind folglich »Wälder der Pchuvuschen«. Die Männlein sind stark behaart, hässlich und äußerst geil. Gerne nehmen sie sich Menschenfrauen, um sich fortzupflanzen. Frauen, denen so etwas widerfährt, wissen gar nicht, was mit ihnen geschieht. Sie fühlen sich einfach von den Nesseln angezogen, und die unsichtbaren Pchuvuschen, die sie gebären, erscheinen ihnen höchstens im Traumgesicht. Den winzigen Männlein wachsen drei goldene Haare auf dem Kopf. Wem es gelingt, eines davon auszureißen, der kann dann Steine in Gold verwandeln. Die Deutung solcher Aussagen überlasse ich lieber dem Leser. Vielleicht haben solche Geschichten etwas mit der »Eisenstrahlung« zu tun, die von der Brennnessel ausgeht. Das glauben jedenfalls die biodynamischen Gärtner. Und das Gold, von dem die Rede ist, ist sicherlich das Gold der Weisheit.
EIN FREUND DES LANDMANNES
Die Brennnessel als Freund und Helfer des Gärtners oder des Bauern? Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, wie hemmungslos der Landwirt heutzutage auf die giftigsten Herbizide zurückgreift – auf Trichlorphenoxyessigsäure etwa, welche den Stoffwechsel der Pflanze derart beschleunigt, dass sie sich zu Tode wächst –, um die sich ausbreitenden Brennnesselkolonien zu vernichten. Möge Mutter Gaia dem Landmann die Augen öffnen, damit auch er die positiven Seiten dieser Pflanze zur Kenntnis nehme.
In früheren Zeiten, als die Menschen noch in einer bunteren, magischen Welt lebten, sahen sie in der Brennnessel einen wahren Bundesgenossen gegen verschiedene Bedrohungen. Der Bauer im Erzgebirge steckte zum Beispiel nebst einem Besenstiel Brennnesselzweige in die Ecke des Feldes, das er bepflanzen oder einsäen wollte. Dazu sagte er: »Da, du Krähe, das ist dein; was ich stecke, das ist mein!«
Fast überall wurden Nesselbüschel im Stall aufgehängt, damit unsichtbare fliegende unholde Wesen, Hexen eben, dem Vieh und der Milch nichts Böses antun. Hexen fürchten sich allgemein vor dornigen, stacheligen oder spitznadeligen Gewächsen, in denen sie hängen bleiben können. Zur Walpurgisnacht, wenn es die Unsichtbaren besonders wild treiben, wurden Nesselruten auf die Düngerhaufen gesteckt, oder der Mist wurde sogar damit gepeitscht. Man glaubte, die Hexen würden das am eigenen Leib spüren, und es würde ihnen die Lust vergehen, sich am Vieh zu vergreifen.
In ganz Osteuropa wurde Milchzauber mit der Brennnessel getrieben. Wollte die Milch nicht zur Butter werden, dann holte sich der sächsische Bauer eine Nesselrute und redete die Pflanze beim Pflücken mit folgenden Worten an: »Grüß dich Gott, Nesselstrauch,
Hast fünfzig (Feuer) und kein Rauch
Gib mir den besten (Schlüssel)
Lass mich aufschließen der Zauberin ihr Schoß
Dass ich kann herausnehmen den Butterkloß
Das helfe mir Gott!«
Am höchsten Feiertag der Südslaven, dem Badnick, geht ein nacktes Mädchen in den Stall und berührt mit einem Brennnesselzweig jedes einzelne Tier, besonders die Milchkühe. Dabei sagt das Mädchen: »Besser die Nessel als jene, die da kommen könnte, die Milch wegzunehmen!«
Damit die Milch an heißen Tagen nicht so schnell sauer wird, war es vielerorts Brauch, einen Brennnesselzweig in die Milch zu tauchen. Noch in diesem Jahrhundert (1902) wurde eine Berliner Milchverkäuferin wegen Lebensmittelverfälschung vor Gericht gestellt, weil sie versucht hatte, auf diese Weise das Gerinnen zu verhindern. Die Angeklagte musste aber freigesprochen werden, da sie ein »allgemein geübtes Verfahren« angewendet hatte.
Heutzutage bringt der Bauer oder Gärtner solchen Zauberpraktiken wenig Verständnis entgegen. Schule und Medien haben uns den Zauberglauben ausgetrieben, und gegen Milchversäuerung gibt es immerhin Kühlbehälter. Dennoch spielt die Brennnessel immer noch eine wichtige Rolle für den naturnahen Gärtner oder Bauer. Überall, wo sie wächst, hinterlässt sie einen guten, ausgeglichenen Boden. Sie gilt unter Kennern als hervorragende Humusbildnerin. Schauen wir uns nun einmal näher an, was der kluge Landmann alles mit der Brennnessel anfangen kann:
• Mancher Gärtner bereitet aus der Brennnessel eine Jauche, die die Gemüsepflanzen nicht nur kräftig düngt, sondern auch gegen Schädlings- und Pilzbefall widerstandsfähiger macht. Das Düngen mit dieser Jauche verändert die Zusammensetzung der Säfte in den Kulturpflanzen, sodass sie den Insekten nicht mehr so gut schmecken. Ein alter Gärtner erzählte mir, er habe sogar beobachtet, wie durch diese Behandlung die Ameisen aktiver wurden und auf Raupenjagd gingen. Die Brennnesseljauche stinkt entsetzlich, aber wie das Sprichwort sagt: Was stinkt, das düngt!
• Bei Stängelfäule, die die jungen Pflänzlein im Frühbeet umkippen lässt, bei Mehltau und anderem Pilzbefall ist ein Brennnesseltee das geeignete Mittel. Der Aufguss, mit Zusatz von einem Teil Schachtelhalm und einem Teil Kamille, wird zur Vorbeugung auf die gefährdeten Pflänzchen gesprüht. Man könnte zur Wirkung sagen, dass der feurige Mars keine mondhaften Schmarotzer duldet wie Pilze oder Mehltau.
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