Nach einiger Zeit gebar diese ihr erstes Kind. Aber während sie schlief, kam die Alte geschlichen, nahm ihr das Kind weg, bestrich ihren Mund mit Blut und ging zum König, dem sie klagte, die junge Frau sei eine Menschenfresserin.
Da die junge Königin nicht reden durfte, konnte sie sich auch nicht verteidigen. Aber der König, der seine Frau liebte, glaubte seiner Mutter nicht. Die Alte raubte auch das zweite Kind. Als sie dann auch noch das dritte neugeborene Kind zum Verschwinden brachte, musste der König seine Frau dem Gericht überantworten. Sie wurde zum Tod durch das Feuer verurteilt!
Gerade am Tag der Hinrichtung waren die sechs Jahre vorbei. Die sechs Hemden waren bis auf einen Ärmel fertig geworden. Die Hemden unter den Arm geklemmt, bestieg sie den Scheiterhaufen. Als der Henker den Feuerstoß anzünden wollte, rauschten plötzlich sechs Schwäne daher und nahmen die Gestalt von Königssöhnen an. Da nun ihre Brüder erlöst waren, durfte die junge Frau wieder reden. Sie verriet den Betrug der Alten, die an ihrer Stelle sofort auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Hans Christian Andersen erzählt ein ähnliches Märchen, nur sind es in diesem Fall elf Schwäne, die erlöst werden müssen, und es ist ein böser Bischof, der die Königstochter verleumdet und verbrennen lassen will, weil er sie nachts beobachtet hat, wie sie auf dem Friedhof Nesseln pflückt. So etwas machen angeblich nur Hexen!
Ein weiteres Märchen erzählt von einem hartherzigen Vogt, der einer Dirne nicht erlauben wollte, den Schlossgärtner zu heiraten, bevor sie ihm zwei Hemden aus den Nesseln, die auf dem Grabe ihrer Eltern wuchsen, genäht hatte. Das Mädchen weinte bitterlich und war so betrübt, dass ein wildes Bergweiblein sich erbarmte und ihr beim Spinnen half. Der böse Vogt starb, gerade als sie mit der schweren Arbeit fertig war. Das eine Nesselgewand wurde sein Leichenhemd, das andere nahm sie als ihr Hochzeitsgewand.
Hinter diesen Märchen steckt ein wichtiges Stück vergessener Kulturgeschichte. Die Brennnessel, wie auch der mit ihr verwandte Hanf, wurde im Neolithikum für die Völker Nordeuropas bald eine wichtige Faser- und Gespinstpflanze, aus welcher Gewebe so fein wie Musselin oder so grob wie Segel- und Sacktuch hergestellt wurden. Auch feste Stricke und Seile wurden aus Nesselfasern gedreht.
Die Garnherstellung war keineswegs einfach. Die Nesseln mussten wie auch der Flachs oder Hanf in Wasser eingeweicht, vergoren, geröstet, geschwungen, in Lauge gekocht, durch die Hechel gezogen und zu spinnfertigen Wocken geschlichtet werden, ehe sie spinnbereit waren. Diese umständliche und schwierige Arbeit wurde fast ausschließlich von den Frauen verrichtet.
Seit neolithischen Zeiten war es die Große Göttin selber, die über die Herstellung der Zwirne, Garne und Spinnfäden gebot. Sie war es auch, die in Gestalt der Frigga, Athena, Minerva, Ishtar der Moiren oder der Nornen mit ihrer Spindel oder dem Spinnrad das Schicksal der Menschen und der Götter spann. Ebenso »spannen« die Frauen am Schicksal der Hofgemeinschaft und Familie, wenn sie in der dunklen Jahreshälfte in den Spinnstuben ihre Garne bearbeiteten, scherzten und plauderten. Das waren wichtige und heilige Angelegenheiten. Da hatten die Männer nichts zu suchen. Hier und da sollen die Spinnerinnen den Männern, die ihrem Arbeitsplatz zu nahe kamen, als derben Scherz die Hosen mit Brennnesseln vollgestopft haben.
In diesem Zusammenhang lässt sich der tiefere Sinn der Märchen deuten. Die schöne Königstochter, die die Nesselhemden näht, ist niemand anders als die Göttin, die den Lebensfaden spinnt und das Schicksal webt. Sie ist es, die, wie im zweiten Märchen, sowohl das Hochzeitskleid als auch das Totenhemd näht. In Grimms Märchen hängt das Schicksal ihrer Brüder förmlich von ihrem Wort oder besser gesagt von ihrem Schweigen ab. (Traditionell wird die Schicksalsgöttin als schweigend dargestellt.) In diesem Märchen wird auch die zauberwidrige Macht dieser eisenhaltigen Pflanze offenbart. Nur Panzerhemden aus Nesseln können vom bösen Zauber befreien. Die Schwanengestalt symbolisiert in der indogermanischen Mythologie immer das »Fliegen«, das »Hinaustreten«, das Nichtverbundensein mit der materiellen Erde und ihren ehernen Gesetzen. Die Nessel jedoch, die als Hemd schützend die Brust und die Herzmitte umhüllt, vermittelt den abgehobenen, entschwebten Seelen jene Eisenkraft, die sie wieder fest auf den Erdboden stellt, die sie ermächtigt, ihr diesseitiges Erdenkarma auszuleben.
Im gleichen Sinn empfand der Bauernphilosoph Arthur Hermes die Nesseln, die seinen abgelegenen Einsiedlerhof im Schweizer Jura kräftig umwuchern, als heiligen Schutz gegen negative Einflüsse. Für diesen alten Bauern, der noch ganz in der bunten Bilderwelt der Ahnen lebte, galt das Haus als eine Art Leib, dessen Herzmitte der warme Herd ist. Die Brennnesseln, die er nie ohne Grund mähte, waren sozusagen ein Hemd für diesen Leib, der die Familie beherbergte.
Die Nesselstoffe sind wie auch die Hanfgewebe fast in Vergessenheit geraten. Was man heutzutage als »Nesselstoff« kauft, ist oft nur Baumwolle. In Schottland waren Nesseltücher noch lange nach der Einführung der Baumwolle in Gebrauch. In Holstein war die Nesselmanufaktur so wichtig, dass der Graf von Schauenburg sie in sein Wappen aufnahm. In Leipzig gab es bis 1723 noch eine Manufaktur, die Nesselstoffe herstellte. Im Ersten Weltkrieg, als die Baumwolle infolge der Handelsblockade der Aliierten knapp wurde, kam die Nessel vorübergehend wieder zu Ehren. Man nahm Brennnesselfasern, um Flachs, Baumwolle oder Ramie (eine tropische Faserpflanze aus der Nesselfamilie) zu strecken. Im Jahre 1916 etwa wurden in Deutschland 2,7 Millionen Kilogramm Nesselstoff hergestellt. Es kam zu verschiedenen Anbauversuchen und zu neuen Patentierungen für Herstellungsverfahren. Inzwischen hat man im Zeitalter des globalen Handels, der aus Erdöl hergestellten Kunstofffasern und der Textilimporte aus Billiglohnländern diese Bemühungen als arbeitstechnisch zu umständlich und zu teuer aufgegeben. Wer weiß aber, was die Zukunft bringt. Vielleicht webt uns die Schicksalsgöttin neue Sternenblumenhemden?
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