WOLFS
MEDIZIN
Inhalt
Vorwort
Zum Geleit: Die Kraft der Wildnis
Nordmongolei
Auf der Suche nach dem Ex Oriente Lux
Der Medizinmann und der Schamane
Opferlamm und Hundebiss
Indianerfilme und Pferdeherden
Owoos und Kultstätte
Buddhistisches Heiligtum, zahme Rehe und Gewitter
Ulmen und Eschenahorn in Erdenet
Vom Fleischessen
Pflanzen zum Räuchern
Der lange Schatten des Schlaraffenlandes
Heilquellen
Der magische Vulkan
Das sterbende Schaf
Murmeltier
Gruß der Geier
Mit dem Kräuter-Bold unterwegs
Chaga
Hanf und andere Unkräuter
Gefährdete Umwelt
Schamanen und Lamas
Ein reiches Land
Die spirituelle Blindheit der Titanen
Die Jurte als kosmisches Abbild
Mutterbaum
Sibirien
Auf in die Taiga
Kjachta – der Glanz vergangener Tage
Burjaten, die »Waldmongolen«
Der größte Leninkopf und der größte Buddha
Altgläubige
Fahrt zum Baikalsee
Ein roter Wolf und eine weiße Göttin
Ewenken, ein Volk der Birken und Rentiere
Schmiede und schwarze Schamanen
Seereise
Insel der Robben
Alexej und die Insel der Zauberer
Wo die Götter wohnen
Von Wölfen und Tauben
Der Schamane mit dem gespaltenen Daumen
Dschingis Khan, der schamanische Herrscher
Temudschin, mein Jugendidol
Anhang
Tartaren und Tataren
Drei Seelen
Tenger, der Himmel
Dank
Bibliografie
Register
Vorwort
Im Sommer 2017 waren Wolf-Dieter Storl und ich mit einer kleinen Gruppe in der Mongolei und in Sibirien. Es ging vorrangig um eurasische Pflanzenheilkunde und Schamanismus. Dort in den Steppen ist der Vorhang zur Anderswelt dünn und transparent, sodass das Manifeste und das Feinstoffliche einen viel engeren Kontakt haben als hier in Mitteleuropa. Dies ist keine verbrämte Esoterik von verklärten Spinnern, sondern von jedem mehr oder weniger stark empfindbare Realität. Die Gruppenteilnehmer waren Ethnologen und Therapeuten, Menschen, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen. Wie schön war es doch zu sehen, dass die beiden Welten, die ohne scharfe Abgrenzung ineinander übergehen, ohne Grundsatzdiskussionen, ohne Wenn und Aber akzeptiert wurden!
Wolf-Dieter Storl nennt sein Buch Wolfsmedizin. Dieses Tier spielt in der mongolischen Tradition und Schöpfungsgeschichte eine große Rolle. Dschingis Khan hatte den Beinamen »der blaue Wolf«. Die Nomaden verehren und fürchten dieses Tier. Auf der einen Seite ist der Wolf Teil ihrer Ideologie, auf der anderen der Fressfeind ihrer Zuchttiere. Bei einer früheren Mongoleireise hörte ich des nachts mal Wölfe, krabbelte aus dem Zelt und wurde von zähnefletschenden Hunden der Nomaden umringt. Allerdings standen sie so, dass sie nach außen geiferten. Was kurzzeitig wie ein aggressiver Akt mir gegenüber aussah, war genau das Gegenteil: Sie wollten mich in Schutz nehmen vor ihren wilden Verwandten!
Sowohl in der Mongolei als auch in Sibirien ist der Schamanismus lebendig. Er war es immer, selbst als er in Sowjetzeiten als »konterrevolutionär« verfolgt wurde. Der Schamanismus ist dort in den Völkern so tief und fest verankert, dass politische Gegenmaßnahmen nur wenig aus- und anrichten konnten. Der Schamane als Verbinder zwischen den Welten hat einen festen Stellenwert im Alltag dieser ethnischen Gruppen. Milch- und Wodkaopfer vor dem Kühlergrill der Jeeps bei der Weiterfahrt, das Anhalten, Umrunden und Steineopfern bei Owoos als Symbol für das Erbitten einer guten Reise zeigen diese Verbundenheit mit der anderen Dimension. Bei manchen Autos, mit denen wir dort gefahren sind, war dieser Schutz auch bitter nötig!
Schon an den Überschriften in diesem Buch konnte ich erkennen, dass es sich um eine Art Tagebuch handelt, denn sie beziehen sich tatsächlich auf Geschehnisse auf dieser Fahrt. Da ich bisher alle Bücher von Wolf-Dieter gelesen habe, freue ich mich besonders, nun eine Reisedokumentation von ihm vorliegen zu haben.
Peter »Pitt« Germann
Dortmund, Mai 2018
Zum Geleit: Die Kraft der Wildnis
Wolfsmedizin. Was hat das zu bedeuten? Was will es sagen? Wölfe sind zu Hause in der Wildnis, am Rande der Menschenwelt. Sie haben die Reinheit und Kraft der wilden, unverdorbenen Natur; sie sind Grenzgänger. Ein wirklicher Heiler ist ebenfalls ein Grenzgänger, einer, der über die Grenzen der gesellschaftlichen Konventionen hinausgeht. Er muss ein solcher sein, denn Krankheit und Wahnsinn, Tod und Fortpflanzungstrieb, sie lassen sich nicht durch die Gebote der Rationalität und Ethik eingrenzen. Heute in unserer entzauberten Welt, in der Sicherheit und Berechenbarkeit oberste Priorität haben, haben wir vergessen, dass die wilden, nicht zähmbaren Kräfte der Natur (und die der tiefen Psyche) auch das Potenzial der Vitalität, Fruchtbarkeit und Heilung in sich tragen. Es ist die Kraft der Wildnis, die immer wieder in die erstarrte, geordnete, zivilisierte Welt hereinzubrechen droht, sie aufwirbelt, energetisiert und dadurch Neues – auch Heilendes – ermöglicht. Naturnahe Völker, wie es auch unsere Vorfahren waren, integrierten diese Energien in Form von periodisch zelebrierten, oft orgiastischen Festen in ihre Kultur, bei denen die Götter und Geister der Berge, Sümpfe und Wälder durch die Dörfer stürmten, die Menschenseelen ergriffen, durch sie hindurch tanzten und dabei die Fruchtbarkeit der Felder und Weiden, der Tiere und der Menschen freisetzten. Die wilde Jagd Wodans, der Zug der Percht, das rasende Treiben im Gefolge des Dionysos, die Lupercalien und Saturnalien der Römer, das keltische Samhain (Halloween) oder das indische Holi-Fest sind Ausdruck dieser participation mystique, die immer wieder eine heilende Katharsis ermöglicht.
Bei den kleineren, ursprünglicher lebenden Jäger- und Sammlervölkern fand die Berührung mit den Geistern der wilden Natur eher auf einer individuellen Ebene statt. Die Schamanen und Schamaninnen, die indianischen Medizinmänner und -frauen, auch die indischen Sadhus und Sadhvis gehen auf Visionssuche in die Einsamkeit. Der Gang auf den hohen, schwer zugänglichen Berg oder – wie bei den irischen Kelten – auf eine kleine sturmumbrauste Insel ist zugleich ein Gang in die dunklen Gründe der eigenen Seele. Dort, wo harte Askese, Fasten und Wachen das Ego dämpft und die Ekstase (griechisch ekstasis, »das Außer-sich-Geraten«) ermöglicht, dort wo sich die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Wildnis und Kulturland verwischen, finden sie das »Loch in der Zeit«; dort begegnen ihnen ihre Hilfsgeister – Adler, Bären, Wölfe, Hirsche, Schlangen – und schenken ihnen die notwendigen heilenden Visionen. Und gerade weil sie außerhalb der Ordnung stehen, können sie die ursprüngliche Ordnung erkennen und damit aufrechterhalten (DUERR 1978:52).
Schamanen, Medizinleute und Kräuterweiber kennen sich in der Wildnis, dem finsteren, schwer zugänglichen Wald, der einsamen Heide und den schroffen Bergen gut aus, ebenso wie in den Tiefen der inneren Seelenlandschaft. Sie vermögen es, die Gegenden jenseits des schützenden Hags, der die kleine Insel unseres domestizierten Daseins einhegt, zu bereisen. Sie haben selbst so etwas wie eine Wolfsnatur. Es gibt mittelalterliche Darstellungen von Hexen (Schamaninnen), die auf Wölfen reiten. Da ist es kein Wunder, dass ein Schamanengott wie Odin/Wodan, der die Heilkräuter und Zaubersprüche kennt, Wölfe als Begleiter hat. Auch eine schamanische Persönlichkeit wie Johnny Appleseed, der im amerikanischen Siedlergrenzland unterwegs war, wurde von einem Wolf begleitet, den er aus einem Fangeisen befreit hatte. Viele indianische und sibirische Schamanen haben Beziehungen zum Geist der Wölfe; bei meinem Freund Bill Tallbull war es ein Steppenwolf, der ihm bei seiner Visionssuche erschien und ihm seine Lebensaufgabe als Medizinmann und Botschafter zum »grünen Volk« (Pflanzen) wies.
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