Fazit: Im Einzelgespräch kann ich mein Gegenüber verstehen. Kommen weitere Geräuschquellen hinzu, verstehe ich sie oder ihn nicht mehr.
Das zeigt uns zweierlei:
• Im Grunde können wir hören, denn sonst könnten wir den anderen ja auch im Einzelgespräch nicht verstehen.
• Wir haben Schwierigkeiten, uns dort, wo mehrere Geräuschquellen gleichzeitig vorhanden sind, auf eine Quelle auszurichten, uns im sogenannten »Störgeräusch« zu fokussieren. (Warum das so ist und wie wir wieder lernen, unsere Mitmenschen besser zu hören, erkläre ich in diesem Buch.)
Indem wir hören, wollen wir verstehen – was hören wir da? Wir hören einander zu, wir hören uns selbst zu. Wir wollen in uns nachvollziehen, was die Welt »da draußen« uns mitteilt. Das ist ein sehr komplexer Vorgang, in dem viele Aspekteunserer Sinne zusammenwirken und -arbeiten. Stellen wir den Hörvorgang im Folgenden kurz zusammengefasst dar.
Aspekt:Blickrichtung, Ansicht, Gesichtspunkt (lat. aspectus [eigtl. »das Hinsehen«]). – Wesentliche Elemente einer Sache, eines Themas, die sich immer auf dasselbe Subjekt beziehen, es jedoch von verschiedenen Seiten beleuchten. Damit können auch verschiedene Ebenen der Beschreibung gemeint sein, zum Beispiel ein Mensch mit seinen Emotionen, seinem körperlichen Zustand, seinen erworbenen Fähigkeiten.
Anatomische Übersicht des menschlichen Ohrs.
Informationen (Schallwellen und Schwingungen) von außen treffen auf unseren anatomischen Hörsinn. Die Ohren wirken wie eine Schale, die Schallwellen empfängt und diese nach innen in den Gehörgang leitet. Dort treffen sie auf das Trommelfell und bringen es in Bewegung. Direkt mit dem Trommelfell verbunden sind die 3 kleinsten und härtesten Knöchelchen – Hammer, Amboss und Steigbügel genannt – in unserem Körper, die, angeregt durch das Trommelfell, die Bewegung durch das Innenohr hindurch an die Gehörschnecke weitergeben. Hier werden über Druckänderungen Wellen ausgelöst, die ihrerseits die Haarzellen in Bewegung versetzen, so wie der Wind die Wipfel der Bäume im Wald bewegt.
Jede einzelne dieser etwa 20 000 bis 30 000 Haarzellen (die Angaben schwanken sehr stark) in der Gehörschnecke (Cochlea)ist mit einer Nervenzelle verbunden, und diese Nervenzellen geben die erhaltene Anregung als elektrischen Impuls über den Hörnerv ans Gehirn weiter. Erste Station ist das Stammhirn, um notfalls blitzschnell reagieren zu können. Von dort geht es weiter in verschiedene Bereiche des Gehirns. 6
Cochlea: Teil des Innenohrs (gr. kochlías [Schnecke, schneckenförmiges Gebilde]).
Ebenfalls beteiligt am Hören ist unser Gleichgewichtsorgan (die 3 Bogengänge), das auch im Ohr sitzt und feinste Steuerimpulse über den Gleichgewichtsnerv in unsere Muskulatur gibt. Zudem ist jedes Ohr mit beiden Gehirnhälften verbunden, technisch gesprochen kreuzverschaltet, und beeinflusst die elektrische Grundschwingung unseres Gehirns, die bei einem EEGsichtbar gemacht werden kann. Der Hörvorgang beeinflusst also, wie die beiden Gehirnhälften zusammenwirken und dadurch optimal miteinander arbeiten können.
EEG: Abkürzung für »Elektroenzephalogramm« oder »Elektroenzephalografie«. Ableitung und Aufzeichnung der durch die Tätigkeit der Hirnrinde entstehenden feinen Ströme und Auswertung der Unterschiede gegenüber den normalen Kurven zur Krankheitserkennung (gr. egképhalon [Gehirn]).
Weg des Schalls (der Information) vom Ohr bis zum Gehirn. 7Die Grafik zeigt uns den komplexen Weg der Signalweiterleitung aus dem Innenohr ins Gehirn. Die Kreise mit den Punkten stehen für Ansammlungen von Nervenzellen, eine Art Rechenzentren, wo die Informationen eine erste Bewertung und Verarbeitung erfahren. Die gelben Linien stehen für die Nervenfasern, die auf der rechten Seite zahlreicher sind. Dieser gesamte Weg wird »Hörbahn« genannt. Wir wissen einiges über die Anatomie, doch längst verstehen wir noch nicht, wie alles zusammenspielt und es offensichtlich möglich ist, diese Vielzahl von beteiligten Nerven und Nervenleitungen miteinander abzugleichen und dabei noch in Bruchteilen von Sekunden eine Information zu verarbeiten.
Zusätzlich hören wir auch über unsere Knochen, die sogenannte Knochenleitung, tiefe Frequenzen. Hohe Schwingungen, insbesondere Luftdruckschwankungen, nehmen wir mit unserem Körpergewebe, vor allem der Haut wahr. Auch taube Menschen, die den gesprochenen Schall nicht oder nicht mehr bewusst wahrnehmen, empfinden Schwingungen und verarbeiten sie.
Alle Lebewesen, von der kleinsten Mikrobe bis zum größten Wal, hören. Das heißt, sie nehmen Schwingungen wahr, verarbeiten diese, reagieren darauf und geben selbst ihre spezifische Schwingung, ihre Worte, ihr Singen, ihr Blubbern, ihr Bellen wieder in die Welt hinaus.
Hören ist untrennbar mit dem Sprechen verbunden, mit der Wahrnehmung unseres Umfelds und unserer Information, unserer Schwingung, unserer Mitteilung an die Welt. Höre ich das freudige Lachen meines Kindes, entspanne ich mich. Höre ich das durchdringende »Tatütata« des Feuerwehrautos, steigen meine Aufmerksamkeit und meine Spannung unmittelbar. In der einen Situation verlangsamt sich mein Herzschlag, und mein Blutdruck sinkt; in der anderen pocht mein Herz kräftiger, und mein Blutdruck steigt, um notfalls handeln zu können.
Geräusche beeinflussen und verändern ständig unser Leben. Sie bestimmen mit, wie wir uns fühlen, ob wir uns entspannen oder in Alarmbereitschaft gehen. Immer ist unser ganzes Wahrnehmungssystem einbezogen und beteiligt. Immer und zu jeder Zeit ist auch mein Hörsinn eingeschaltet. Auch wenn ich schlafe, reagiere ich auf Geräusche. Wir hören nicht auf zu hören. Sobald es ein ungewöhnliches Geräusch gibt, sind wir schon wach. Unser Bewusstsein scannt ständig über das Hören die Umgebung – das Hören schläft nie.
Ohne Unterlass verarbeitet unser Hörsinn also die Geräusche in der näheren und weiteren Umgebung und prüft dabei unter anderem immer: Ist alles in Ordnung? Deshalb ist unser Hören auch für unser Körpergefühl der Sicherheit zuständig, weil wir so Dinge wahrnehmen, die wir nicht sehen.
Unser Hören ist ein 360-Grad-, also ein Rundum-Sinn und geht in alle Richtungen. Wir können, wenn wir in einem Zimmer sind, durch die Fenster schauen. Das ist jedoch nur eine begrenzte Wahrnehmung unserer Umgebung. Hören können wir jedoch sogar durch Wände. Wir wissen dadurch, was um uns herum los ist. Ich kann hören, wenn im anderen Zimmer gesprochen wird, der Fernseher läuft oder vor der Tür jemand ruft: »Wo bist du?«, auch wenn ich das alles nicht sehe.
Wie schnell wir von Entspannung auf höchste Spannung und Wachheit umschalten, ist in vielen alten Western zu sehen. Die guten Indianer sitzen des Abends um das Lagerfeuer, die bösen Gauner schleichen sich an. Da knackt der dürre Ast, und alle Indianer springen auf … Oder etwas weniger dramatisch: Bei unserem Wecker ist der klassische Klingelton in der Tonhöhe so abgestimmt, dass unser Wahrnehmungssystem uns alarmiert und uns am Verstand vorbei direkt aus dem Schlaf in den Wachzustand holt.
Der Vorgang des Hörens
Ein gesunder Hörsinn führt also über die akustische Wahrnehmung zu einer umfassenden und korrekten eigenen Orientierungim Raum. Die Nähe und Distanz des eigenen Körpers zu statischen oder sich bewegenden anderen Körpern in der gesamten nahen und weiten Umgebung muss über den Hörsinn geortet und nahezu gleichzeitig im Gehirn berechnet und zugeortet, das heißt im Raum positioniert werden. Damit werden die eigene Position, der eigene Standpunkt im dreidmensionalen Raum und die zeitliche Zuordnung möglichst präzise definiert. Die zeitliche Abfolge – welches Geräusch folgt auf welches andere, welche Zeit braucht ein Objekt, um zu mir zu gelangen oder sich an mir vorbeizubewegen – ist eine wichtige Information, die ich auch über den Hörsinn erhalte.
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