Endlich tat er es, und ich schob ihn nach hinten, dankbar, dass er nicht besonders viel wog. Augenblicklich umschlang er mich und ich griff hastig mit der freien Hand wieder nach dem Ast. »Halt dich jetzt richtig gut fest, verstanden?« Ich glaubte, ein Nicken zu spüren, und zog meine Beine hoch, schlang sie darum und atmete erleichtert aus. Zwar waren wir noch längst nicht aus der Gefahrenzone, doch es verschaffte meiner geschundenen Schulter eine kleine Ruhepause.
Da ich nun meinen Bauch frei hatte, zog ich mich hoch und lag schließlich keuchend und erschöpft bäuchlings auf dem Ast. Nach einem kurzen Moment robbte ich langsam und vorsichtig vorwärts. Ich zog uns weiter, so zügig es mir noch möglich war, immer darauf bedacht, den Ast nicht in zu starke Schwingungen zu versetzen. Als ich die Böschung fast erreicht hatte, wurde ich plötzlich gepackt und hochgezerrt. Einer Panik nahe, riss ich mich augenblicklich los, sobald ich festen Boden unter den Füßen spürte, traf dabei jedoch versehentlich den jüngeren von zwei Dunkelelben mit der Faust im Gesicht. Hastig brachte ich einige Schritte Abstand zwischen uns. Ich beobachtete jede ihrer Bewegungen, während ich nach dem Kleinen griff, doch er hielt sich noch immer krampfhaft an mir fest.
»Du kannst jetzt loslassen.« Ganz bewusst verlieh ich meiner Stimme einen ruhigen Klang, wandte jedoch meinen Blick nicht von den beiden ab, die mich mindestens ebenso misstrauisch musterten. »Kennst du die? Bist du vor ihnen geflohen?«, fragte ich und drehte mich ein wenig seitlich, damit er sie ansehen konnte. Erneut versuchte ich, ihn von mir zu ziehen.
»Vater«, rief er überrascht und sprang ihm entgegen. Der plötzliche Druck und der Schwung ließen mich taumeln, und während er seinen Sohn auffing, fasste der andere meinen Arm, um zu verhindern, dass ich umfiel. Trotz meiner Schwäche befreite ich mich hastig aus seinem Griff und tastete meinen Rücken ab. Als ich unauffällig hinuntersah, entdeckte ich Blut.
Verdammt. Das fehlt mir gerade noch , ärgerte ich mich.
»Hey, bist du vor einem von ihnen weggelaufen?«, wiederholte ich ruhig und deutete in ihre Richtung, nur um sicherzugehen. Irritiert schüttelte er den Kopf. Sein Vater betrachtete mich verwundert, der andere schnaubte missbilligend.
»Vor wem bist du davongelaufen, Jul?«, hakte sein Vater nach, ließ mich aber ebenfalls nicht aus den Augen.
»Vor Mati und Kial«, flüsterte er beschämt.
»Sie haben dich in einen Fluss gehetzt und sind dann einfach abgehauen?«, fragte ich fassungslos, rief mich im nächsten Moment jedoch selbst zur Ordnung.
Das geht mich überhaupt nichts an.
»Sie haben uns geholt«, keifte der andere aufgebracht.
Wütend funkelte ich ihn an. »Und dafür sind zwei nötig?« Ich schüttelte den Kopf. »Sei das nächste Mal vorsichtiger«, sagte ich zu dem Kleinen und wandte mich ab.
»Warte, wo willst du denn hin?«, rief er mir hinterher.
»Ich muss meine Sachen holen«, antwortete ich, ohne ihn anzusehen, und ging los.
Plötzlich stand er vor mir, lächelte und sprang mir in den Arm. »Danke«, lachte er fröhlich.
Mir hingegen entwich ein Stöhnen. Ich sank auf die Knie, nicht mehr in der Lage, den Schmerz noch länger zu ignorieren. Nicht nur, dass er meine Schulter fest umklammerte, auch meinen Rücken schien es schlimmer erwischt zu haben als ich dachte. Behutsam löste ich seine Arme und sah ihn an, lächelte zögernd. »Gern geschehen. Doch das nächste Mal läufst du nicht weg. Stell dich ihnen in den Weg, und auch wenn du Angst hast, zeig sie ihnen nicht. Zwing dich selbst dazu, ihnen in die Augen zu blicken, gleichgültig, wie ängstlich du bist. Du wirst sehen, dann macht es ihnen gar keinen Spaß mehr, dich zu ärgern und zu jagen.« Ernst nickte er.
»Es scheint dir nicht besonders gut zu gehen. Hast du dich verletzt?«, fragte der Vater hinter mir und trat in mein Blickfeld.
»Es wird schon gehen, ich muss nur zu meiner Tasche. Ich habe alles dabei, was ich benötige«, wich ich aus, griff die Schulter des Jungen und sah ihn an, als würde ich noch etwas sagen wollen. Dabei nutzte ich ihn lediglich als Stütze, um überhaupt wieder auf die Füße zu kommen. »Mach‘s gut, Jul«, sagte ich, während ich mich schwerfällig erhob. Ich wusste inzwischen, dass sie zwar zu meinem Volk gehörten, doch sie waren nicht die, die ich suchte. Jul und die beiden stammten von einem anderen Clan ab.
Ich nahm meine Hand von seiner Schulter und versuchte, das Zittern zu unterdrücken, ballte sie zur Faust.
»Wie heißt du?«, fragte Jul und betrachtete mich neugierig.
»Sam«, antwortete ich lächelnd, nickte den beiden zu und setzte meinen Weg fort.
Seit wann bin ich so verweichlicht? Warum kann ich meine Schmerzen immer weniger kontrollieren, meine Erinnerungen? Alles scheint mir zu entgleiten.
»Warte. Du bist verletzt und kannst unmöglich allein weiter durch den Wald spazieren. Du kommst mit uns und wir versorgen deine Wunden«, beschied der Vater und fasste meinen Arm. Ich versteifte augenblicklich.
»Nicht anfassen, bitte«, flüsterte ich und entwand mich hastig, zuckte jedoch sogleich vor Schmerzen zusammen.
»O ja. Bitte, Sam. Umi macht jeden wieder gesund. Und wo willst du denn hin, du kannst ja kaum gehen«, rief Jul begeistert.
Ich fluchte innerlich. Sie hatten ja recht, dennoch behagte es mir nicht. Andererseits würden sie mich zu einem Übergang bringen und somit besäße ich schon mal ein Problem weniger. »Ist es weit?«, fragte ich zögernd, noch immer nicht sicher, ob das so eine gute Idee war. Lachend fasste Jul meine Hand. Ich unterdrückte krampfhaft das erneute Zusammenzucken, als er an meinem verletzten Arm zog. »Ich brauche aber meine Sachen«, beharrte ich und setzte mich wieder in Bewegung. Aufgeregt hopste der Kleine neben mir her, wodurch meine Schulter die ganze Zeit bewegt wurde. Inzwischen bildeten sich auf meiner Stirn kleine Schweißtropfen.
Kaum jemand wird verstehen, weshalb ich nicht einfach zugab, am Ende zu sein. Doch es saß zu tief in mir verwurzelt, niemals eine Schwäche zuzugeben oder zu zeigen, selbst jetzt noch. Ich wusste natürlich, dass mich niemand mehr dafür bestrafen würde, doch die jahrelange Folter ließ sich nicht einfach so wieder umkehren. Außerdem waren sie Fremde und allein schon deswegen konnte ich ihnen gegenüber niemals eine Schwäche eingestehen. Also schleppte ich mich vorwärts und ließ mir so wenig wie möglich anmerken.
Bei meinen Sachen angekommen, nutzte ich die Gelegenheit und entwand mich aus Juls Griff. »Dreht euch um und am besten geht ihr ein paar Schritte weg, damit ich mir wenigstens trockene Kleidung anziehen kann.« Sichtbar widerwillig folgten sie meiner Aufforderung, während ich hinter einer Baumreihe Schutz suchte. So schnell wie es meine Schmerzen zuließen, zog ich mich um. Bevor ich als letztes mein langärmliges Shirt überstreifte, legte ich eine Wundauflage auf die Rückenverletzung und umwickelte sie eilig mit einem Verband. All das brachte mich an den Rand meiner Belastbarkeit, weil ich ständig meine ausgekugelte Schulter bewegte. Als ich mich ihnen vollständig angekleidet zuwandte, schwitzte ich vor lauter Qualen.
»In Ordnung«, rief ich und packte meine Jacke ein. Vorsichtig hängte ich mir den Rucksack über die lädierte Seite und Jul schnappte sich sofort meine andere Hand. Erleichtert, dass er nun nur noch an meinem gesunden Arm zog, ließen sich die Schmerzen aushalten.
Wir schwiegen eine ganze Weile, während wir immer tiefer in den Wald vordrangen, bis Jul plötzlich stoppte. Ich spürte den Übergang bereits und atmete tief durch. »Wir müssen dir die Augen verbinden«, erklärte Juls Vater zögernd. »Nur zur Sicherheit.«
Misstrauisch runzelte ich die Stirn und sah zwischen ihnen hin und her. Der Stumme erwiderte meinen Blick undurchdringlich, sprach jedoch noch immer nicht. Jul hingegen strahlte über sein ganzes Gesicht. Schließlich nickte ich seufzend. »Ihr werdet mir wohl kaum ein Messer in den Rücken rammen wollen«, entgegnete ich und hoffte, dass dem auch tatsächlich so war. Jul kicherte, doch der Schweigsame schnaubte erneut. »Wie heißt ihr?«, fragte ich und musterte sie diesmal ausgiebiger.
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